Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

… und hier ist die Grenze

Konzeptionelle Grenzen in einer entgrenzten Welt sind kein Widerspruch, sondern vielmehr Hilfsmittel für zukunftsfähige Lösungen. Das gilt auch für die Unternehmensführung.
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Wenn heute über modernes Management diskutiert wird, haben Grenzen, Strukturen und Hierarchien oftmals keinen hohen Stellenwert. Der Fokus darauf erscheint altmodisch. Vielmehr domi­nieren Metaphern der Grenzenlosigkeit beziehungsweise Grenzüberschreitung. Gerade aber die stetig steigende Kom­plexität unserer Lebensrealität bedingt eine Rückbesinnung auf konzeptionelle Grenzen, damit wir inmitten dieser Kom­plexität nicht konturlos gedanklich und ­ideell zerfliessen. 

Wenn wir also darüber nachdenken, was gute Unternehmensführung angesichts komplexer Herausforderungen wie der Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit bedeutet, so könnte es uns helfen, auch wieder verstärkt Grenzen in­mitten der Grenzenlosigkeit zu definieren. Konzeptionelle Grenzen in einer entgrenzten Welt sind kein Widerspruch, sondern vielmehr Hilfs­mittel für zukunftsfähige Lösungen.

Es braucht konzeptionelle ­Grenzen, um Komplexität ­bearbeitbar zu machen 

Es ist leicht, Beispiele für Metaphern der Grenzenlosigkeit in aktuellen volks- wie betriebswirtschaftlichen Diskussionen zu finden. Dem Globalisierungsgedanken beispielsweise unterliegt die implizite Annahme einer stets voranschreitenden Konvergenz, das heisst der globalen Angleichung von Märkten und Marktbedürfnissen hin zu einem grenzenlosen Wirtschaftsraum. In agilen Organisationen sollen sich Systeme, Teams und Arbeitsströme stets flexibel den aktuellen Zielnotwendigkeiten anpassen können – etwaige bestehende organisationale Grenzen überwindend –, um innovativer und kreativer arbeiten zu können. Die Holokratie verabschiedet sich von einer klassischen Hierarchie als Folge von Struktur und organisationalen Funktionsgrenzen und definiert vielmehr Rollen, die Mitarbeitende je nach Bedarf wechselnd übernehmen sollen.

Die Wertigkeit dieser Beispieldiskussionen soll hier nicht infrage gestellt werden, denn all diese Diskussionsbeiträge bieten einen Mehrwert zugunsten guter Unternehmensführung. Jedoch zeigen diese Beispiele durchaus, dass in mo­dernen Managementkonzepten Grenzen nur noch zu bestehen scheinen, um möglichst schnell überwunden oder eliminiert zu werden. Ein Sehnen nach einem möglichst weitgehenden Nicht-Vorhandensein von Grenzen im Kontext der Unternehmensführung wäre aber nicht hilfreich. Vielmehr müssen wir konzeptionelle Grenzen wieder denken lernen, um Komplexität bearbeitbar zu machen. 

Das «Pathos der fallenden Grenze»

Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann spricht angesichts dieses Drangs zum Abbau von Grenzen von einem «Pathos der fallenden Grenze». Grenzen seien gemäss Liessmann aber einerseits wichtig, um überhaupt etwas wahrnehmen zu können. Denn ohne Grenzen – so schreibt er in seinem Buch «Lob der Grenze» – sei alles unterschiedslos gleich: «Wer als Mensch wissen will, wer er ist, muss wissen, von wem er sich unterscheidet.» Andererseits macht Liessmann stark, dass wir ja eigentlich gerade im ökonomischen Kontext überall auf neue Grenzen stossen: Grenzen des Wachstums, Grenzen natürlicher Ressourcen, Grenzen der Belastbarkeit etc. Aus der Perspektive Liessmanns müssen also gerade Grenzen wieder verstärkt in den Dialog eingeführt werden: Um Erkenntnisse überhaupt zu ermöglichen und um den Nutzen wertschöpfender Arbeit zu definieren.

Ebenfalls legt ein Blick auf die Megatrends der Zukunft nahe, dass wir wieder Grenzen konzeptionell denken lernen müssen. Wenn wir beispielsweise Bezug nehmen auf die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit wird dies unmittelbar deutlich. Denn im Rahmen all dieser Megatrends erscheinen mir Lösungen nur dann möglich, wenn wir konzeptionelle Grenzen identifizieren, beschreiben und konstruktiv bearbeiten (und nicht nur überwinden oder eliminieren).

Schädliche Vereinfachungen im Denken

So kann beispielsweise die oben erwähnte Annahme der Konvergenz im Rahmen der Globalisierung zu schädlichen Vereinfachungen im Denken führen. Denn wenn man annehmen kann, dass als Folge der Globalisierung alles gleich wird und Grenzen nicht mehr ­Unterschiedliches markieren, dann erscheint eine gedankliche Auseinandersetzung mit Unterschiedlichem gar nicht mehr nötig. Denn alles ist oder wird ja eh gleich. Diesem Gedankengang liegt dann implizit inne: Wenn ich es so mache, wie es hier funktioniert und richtig ist, dann muss ich es als Folge der angenommenen Gleichheit eben dort auch genauso machen, damit es dort funktioniert und richtig ist. Ein solches Denken wäre aber ­sowohl ethisch falsch wie marktwirtschaftlich schädlich, weil nötige Anpassungen nicht stattfinden oder wirtschaftliche Opportunitäten der Differenzierung nicht aufgesucht werden. Oder andersherum argumentiert: Wenn ich Grenzen in einer entgrenzten Welt identifizieren kann, dann schaffe ich Voraussetzungen für Respekt, Adaption und Differenzierung und damit eine Grundlagen für gute Unternehmensführung.

Die Fortschritte der Digitalisierung führen uns ebenfalls an eine Grenze, die immer wichtiger wird zu beleuchten. Denn was passiert, wenn wir Technologien nicht mehr nur nutzen, um unser Leben einfacher zu machen, sondern wenn Technologien und unser menschliches Leben scheinbar verschmelzen. Denn künstliche Intelligenzen führen schon heute scheinbar dazu, dass wir mit Technologien interagieren, als würden wir mit einem Menschen interagieren. Es gab ­bereits eine Firma in Skandinavien, in ­deren Verwaltungsrat ein Sitz durch eine künstliche Intelligenz besetzt wurde. Oder ein Personal-Trainer ist nicht mehr eine Person, sondern eine künstliche Intelligenz auf dem Natel. 

Wenn Mensch und Technologien derart im Alltag verschmelzen, müssen wir in der Lage sein, die Grenze zwischen Mensch und Technologien konzeptionell zu denken, um die ethischen und operativen Herausforderungen an dieser Grenzinteraktion identifizieren und in ­einem nächsten Schritt lösen zu können.

Orte, wo das Denken mühsam ist

Schliesslich rückt der Nachhaltigkeitsdiskurs ebenfalls eine Grenze in den Vordergrund, nämlich die Grenze zwischen wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Interessen. Und auch im Rahmen dieses Nachhaltigkeitsdiskurses scheut man sich zuweilen, über diese Grenzen vertieft zu sprechen. So führt die oberflächliche Anwendung des allseits bekannten Konzepts der Triple Bottom Line ebenfalls zu oberflächlichen Überlegungen bezüglich der Herausforderungen der Vermittlung von Interessen an diesen komplexen Grenzen. 

Wichtige Überlegungen finden dann nicht in der nötigen Tiefe statt, weil das Konzept der Triple Bottom Line oberflächlich betrachtet nahelegt, dass alles gleichzeitig immer möglich sein muss: Eine gute Bottom-Line für den Profit des Unternehmens, aber gleichzeitig auch eine gute Bottom-Line für unseren Planeten und dessen Menschen. Eine solche Nivellierung von Grenzen und die daraus folgende konzeptionelle Vereinfachung hilft aber nicht weiter. Denn dadurch wird nicht die Komplexität abgebildet, die an den Grenzen zwischen diesen Interessen faktisch besteht.

Ein Lob der Grenzen

Aber genau dieser Komplexität müssen wir uns stellen. Wir müssen uns trauen – auch wenn dies zuweilen mühsam ist –, wieder Grenzen in den Vordergrund zu rücken, um Lösungen inmitten der Komplexität und im Sinne der fundierten Beantwortung an Grenzen offensichtlich werdender Fragestellungen erringen zu können. Wenn wir vor Grenzen kapi­tulieren, dann kapitulieren wir vor der Komplexität. Grenzen sind damit Orte, wo das Denken mühsam ist und Dinge nicht bereits «im Flow» sind. 

Aber genau dies sind die Orte, an denen zukunftsfähige Lösungen identifiziert und verhandelt werden können. Insofern spreche auch ich – im Einklang mit Konrad Paul Liessmann – von einem Lob der Grenzen. Weil sie uns stimulierende Denkanstösse und konzeptionelle Möglichkeiten für die Erarbeitung guter Lösungen bieten.

Porträt