Forschung & Entwicklung

Mitarbeiterführung

Sinnorientierte Führung in selbstorganisierten Systemen

Unternehmensführung durch Kontrolle und Steuerung ist obsolet geworden oder nur noch in ganz wenigen Bereichen hilfreich anwendbar. Viele Führungskräfte befinden sich in dem Dilemma, eine Antwort auf einen zunehmende Freiheitswunsch und die gleichzeitige Verunsicherung durch wegfallende Strukturen in ihren Kontakten mit den Mitarbeitenden zu finden.
PDF Kaufen

Die Arbeitswelten stellen für viele Arbeitnehmer mit der rasanten Digitalisierung und New-Work-Konzepten eine grund­legende Transformation dar. Menschen arbeiten in immer grösserem Masse zeit- und ortsunabhängig miteinander, die Wirtschaft zeichnet sich durch die globale Vernetzung aus, Prozesse werden weiter digitalisiert oder automatisiert. Dabei steigt auch der Wunsch der Arbeitnehmenden, den Aufgabenbereich und die Arbeitsinhalte nach eigenen Bedürfnissen gestalten zu können.

Selbstorganisation gefordert

Hinzu kommt auf organisationaler Ebene die Tendenz, klassische hierarchische Strukturen mit stärkerer Selbstorgani­sation und Selbstverantwortung der Beteiligten zu ergänzen oder ganz zu er­setzen. Die Restriktionen während der Corona-Pandemie haben diesen Trend zu virtuellem und selbstorganisiertem Arbeiten mit einem hohen Anspruch an Selbstmotivation noch einmal vertieft. 
 
Viele Führungspersonen befinden sich in dem Dilemma, eine Antwort auf diesen Freiheitswunsch und die gleichzeitige Verunsicherung durch wegfallende Strukturen und Vorhersehbarkeiten in ihren Kontakten mit den Mitarbeitenden zu finden. «Klassische», direktive Antworten wie engere Steuerung und Kontrolle greifen nicht mehr. Wie können also Führungspersonen auf diese Arbeitsreali­täten in angemessener Art und Weise reagieren?

Eine neue Geisteshaltung 

Schon vor den Auswirkungen der Corona-Pandemie hat sich abgezeichnet, dass die Zeiten von Kontrolle und Steuerung obsolet geworden oder nur noch in ganz wenigen Bereichen hilfreich anwendbar sind. Was nach dem Ende des Kalten Krieges noch als Vuca-Welt (volatil, unsicher, complex – kompliziert, ambiguous – mehrdeutig) bezeichnet wurde, nimmt Dimensionen an, in denen es nicht nur neue Handlungsweisen als Antwort benötigt, sondern eine grundlegend neue Haltung und Sicht auf die Welt.

Unternehmensberater Simon Sinek spricht hier von dem «infinite mindset», einer «unendlichen» Geisteshaltung, die sich nicht an kurzzeitigen Zielen orientiert, sondern an langfristigen Visionen, dem Sinn oder dem «Wofür». Sicherheit in eine unsichere und sich permanent verändernde Welt bringen zu wollen, ist aussichtslos – aber auf den Wellen dieser permanenten Veränderung zu reiten, ist möglich. Es ist der beherzte Sprung in Carrolls Kaninchenbau – wenn ich nicht weiss, wohin ich gehe, ist es egal, welchen Weg ich nehme. 

Die sinnorientierte Führung

Sinnorientierte Führung erkennt an, dass in den meisten Unternehmenskontexten nicht mehr das Individuum, sondern die Potenziale aller Mitarbeitenden für den Erfolg nötig sind. «Führung verwandelt individuelles Potenzial in kollektive Leistung», wie Wirtschaftswissenschaftler Fred Kofman (2008) ausführt. Wenn für viele Generationen die Mitarbeitenden vor allem «Human Capital» darstellten, sind die Aufgaben der Zukunft nicht mehr durch kurzfristige Ziele und Quartals­berichte zu bewältigen.

«Wir spielen ein unendliches Spiel mit einer endlichen Geisteshaltung, als gäbe es einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende», führt Sinek (2019) aus. Dies untergrabe Vertrauen, Kooperation und Innovation. Gleichzeitig ist es oft einfacher, sich die Sinnfrage nicht zu stellen: Es lebt sich unter Umständen leichter, angenehmer, reibungsloser. Die Verantwortung, etwas zu verändern, bedeutet auch Anstrengung, Enttäuschung und Loslassen. Und gleichzeitig ist Resilienz, Durchhaltevermögen und langfristige Leistungsfähigkeit nur möglich, wenn wir wissen, wofür wir Dinge tun. 

In multikulturellen Settings bekommt die Frage einer gemeinsamen Sinnhaftigkeit der Aufgabe eine noch stärkere Bedeutung. Verschiedene Orientierungssysteme der Beteiligten setzen voraus, dass Führung sehr achtsam die unterschied­lichen Wertehaltungen, Sichtweisen, Realitäten und Biographien durch die Entwicklung gemeinsamer Zielbilder mit­einbezieht.

Interkulturelle Praxiserfahrung

Im Rahmen eines Zertifizierungsprogramms am IAP Institut für Angewandte Psychologie in Zürich begleiten Teilnehmende Unternehmer und deren Team in einem asiatischen Schwellenland bei der Gründung eines Sozialunternehmens. Neben den unternehmerischen Kompetenzen von Bedarfsanalyse, Erstellung eines Businessplans, dem Pitchen eines Investors und der letztendlichen Umsetzung steht und fällt die Zusammen­arbeit zwischen den Teams mit der Fähigkeit, in einem selbstorganisierten Setting ohne hierarchische Strukturen Vertrauen, Verantwortungsübernahme und Team-Kohäsion aufzubauen. 

In einem konkreten Fall war das Projekt, in dem das Team den Aufbau eines nachhaltigen und pestizidfreien Agrarbetriebs in Kambodscha begleitete, stark durch ein Akzeptanzgefälle beider Seiten belastet. Interessanterweise wurde dies sehr unterschiedlich beschrieben. Der kam­bodschanische Unternehmer legte in den begleitenden Coachings offen, dass er kein Vertrauen in die Kompetenzen des schweizerischen Teams habe, da dieses seine Vorschläge harsch zurückweise und ihn als Experten nicht akzeptiere. Mitglieder des Schweizer Teams äusserten sich ähnlich, nur mit einem anderen Fokus. Der Unternehmer akzeptiere ihre Vorschläge nicht, könne nicht strukturieren, würde für seine Entscheidungen nicht einstehen und sei nicht greifbar. Im Mai 2021 hat das Team erfolgreich die Sozialunternehmung gründen können, sehr zum Wohle der lokalen Kleinst-Farmbetriebe. Was hat die Wende unterstützt? Die aktive, offene Suche nach dem gemeinsamen «Wofür», der lebendigen Vision für das Unternehmen, zusammen mit einer Offenlegung der Bedürfnisse, Werte und Wünsche jedes einzelnen Teammitglieds hat eine Vertrauensebene schaffen können, in der das Ringen um Ideen nicht mehr als Kritik und das Geben von Feedback nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen wurde.

Heterogenität kanalisieren

Dies hat aber eine bewusste und nicht einfache Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen und individuellen Werten vorausgesetzt, die von vielen anfangs als «Leerlauf» oder «unnötige Umwege» angesehen wurde. Gleichzeitig hat erst dieser Leitstern die Energie freisetzen können, die es gebraucht hat, um in heterogenen Kontexten mit einer Vielfalt an Lebensläufen und den Restriktionen der aktuellen Pandemie der Vision des Unternehmers zum Leben zu verhelfen.

Zusammenfassend kann eine Führungsperson in der heutigen Welt nur dann wirkungsvoll handeln, wenn sie sich ihrer eigenen Werte und Bedürfnisse bewusst ist, die der anderen mit berücksichtigt und eine gemeinsame Vorstellung über das zu erreichende Gut ent­wickelt werden kann. 

Wichtiger denn je ist eine Orientierung am «Whole-person paradigm», das Covey (2013) schon Anfang des Jahr­tausends postulierte: Wir haben es immer mit «ganzen Menschen» zu tun, mit Geist, Körper und Herz. Und nur wenn wir das Potenzial dieser Ganzheit nutzen, kann Grosses entstehen. 

Mögliche Massnahmen

Nicht nur im interkulturellen Kontakt, auch in homogenen Teams bieten sich folgende Massnahmen an:

  • Reflexion der eigenen Sinnorientierung als Führungsperson: Wofür stehe ich ein? Welches attraktive Bild der Zukunft leitet mich in meinen Entscheidungen? Welchen bedeutsamen Unterschied macht mein Handeln?
  • Austausch in der Organisation / im Team: Welches Gut steht im Zentrum unserer Bemühungen? Welchen Beitrag leisten wir für die Erreichung dieses Guts? Was wäre, wenn es uns nicht gäbe? 
  • Reflexion und Austausch unter den Teammitgliedern: Welche Werte hat jeder Einzelne von uns? Wie stehen diese im Verhältnis zueinander? Wie fühle ich mich aufgehoben? 

Methodisches Vorgehen: Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit stellt sich vor allem dann ein, wenn ein Gefühl von Sinnhaftigkeit vorhanden ist. Für die Ausarbeitung dieser Fragen bieten sich daher Methoden an, die Verstand, Gefühl und Körper miteinbeziehen, seien es Bilder, Analogien, Figuren oder anderes. Mit solchen analogen Methoden greifen wir auf unser gesamtes Spektrum an Kreativitäts- und Innovationsfähigkeit zurück.