Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Mit Modellen im Unbekannten navigieren

Beim Umgang mit Modellen bleibt zuweilen die Frage, ob es nicht besser wäre, sich direkt mit der Realität zu beschäftigen. Warum Modelle dennoch ihre Berechtigung haben.
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Eine Einführung in die Volkswirtschaftslehre startet an einer Hochschule häufig mit dem mikroökonomischen Modell von Angebot und Nachfrage. Auch Fragen zu Wachstum, Arbeitslosigkeit oder Börsencrashs untersucht die Ökonomie mit Modellen, die als Grafiken und Gleichungen daherkommen.

Wenn ich VWL unterrichte, etwa in unserem MBA-Programm, dann fragt früher oder später jemand: «Stimmt das ­Modell der vollkommenen Konkurrenz überhaupt?» Oft nennt die fragende Person auch noch gleich ein praktisches Beispiel aus ihrer Branche, das dem diskutierten Modell widerspricht. Jetzt wird es spannend, und die Frage ist auf eine höhere Ebene zu heben: Warum arbeitet die Ökonomie mit Modellen, die stark vereinfachende und nicht selten unrealistische Annahmen treffen?

Wanderkarte als Beispiel für ein Modell

Um dies zu verstehen, bietet sich der ­Vergleich mit einer Wanderkarte an, die ebenfalls ein Modell ist, nämlich der abgebildeten Wanderregion. Modelle sind ein ausgewählter Ausschnitt der Realität und gleichzeitig lassen sie vieles, oft sogar das Allermeiste dieser Realität ausser Acht. Die Wanderkarte illustriert schön, warum dies sinnvoll ist. Eine Wanderkarte bildet nicht jeden Stein, nicht jedes Grasbüschel und nicht jedes Murmeltier ab. Wollte man eine absolut realistische Karte eines Wandertals erstellen, wäre die Wanderkarte bald gleich gross wie das Tal selbst und nicht mehr handhabbar. Es ist gerade die Stärke des Modells Wanderkarte, dass es uns nur die wesentlichen Wege, Geländeeigenschaften und Gebäude auf einem kompakten Stück ­Papier oder Bildschirm zusammenfasst.

Indem man die Realität um Faktor 25 000 zusammenschrumpft und die grosse Mehrheit der Details zugunsten der ­wesentlichen Informationen weglässt, kann man ein Wandergebiet viel besser überblicken und verstehen. Stimmt die Wanderkarte? Sie stimmt insofern nicht, als einzelne Steine und Pflanzen ignoriert werden. Sie stimmt aber insofern, als sie aufzeigt, wo Wege entlangführen oder wo ein Bergrestaurant steht. Das ist insbesondere dann nützlich, wenn man nicht in seiner wohlbekannten Nachbarschaft, sondern in unbekanntem Gebiet wandern gehen möchte.

Modelle sind nicht die Realität, aber sollen sich dort bewähren

Ökonomische Modelle sind die Wanderkarten der wirtschaftlichen Realitäten. Sie fokussieren auf wesentliche Variablen und ihre Zusammenhänge und lassen vieles andere weg. Dadurch wird eine sonst nicht handhabbare und unüberschaubare Realität verständlicher und begreifbarer. 

Der Vergleich mit dem Modell einer ­Wanderkarte lässt sich fort­setzen. Beide ignorieren zwar manche Details, sollen sich aber in der praktischen Anwendung für ihren Zweck bewähren. Sind in der Wanderkarte Wege falsch eingezeichnet, so merkt man dies während der Verwendung im Gelände, und die Karte stellt sich dort als unbrauchbar heraus. Auch ökonomische Modelle müssen sich in der Realität bewähren. In der Wissenschaft nennt sich das die empirische Validierung. Gute Modelle bestehen sie.

Brauchbare Wanderkarten und ökonomische Modelle können ihrem Verwendungszweck entsprechend für Prognosen eingesetzt werden. Wie lange wird es vom Startpunkt bis zum Bergrestaurant dauern? Was passiert mit den Preisen in einem Markt, wenn neue Mitbewerber auftauchen? Auf solche Fragen liefern uns die Modelle begründete Vorhersagen, auch wenn selbstverständlich in beiden Fällen das individuelle Verhalten der Akteure ebenso eine Rolle spielt wie der Zufall. In ungewöhnlichen Krisen mögen die Modelle falsch liegen. Ein ökonomisches Modell wegen Fehlprognosen während der Finanzkrise als unbrauchbar zu betiteln, ist ebenso unfair, wie eine Wanderkarte als mangelhaft zu bezeichnen, wenn man wegen eines Gewitters das Bergrestaurant verspätet erreicht.

Modelle unterstützen bei kollektiven Entscheiden

Modelle geben uns eine Sprache, um gemeinsam Vorhaben zu diskutieren und zu entscheiden. Eine Wandergruppe kann sich am Tisch über die Wanderkarte beugen und verschiedene Routen besprechen. Modelle unterstützen die Kommunikation über sonst nur schwer auszudrückende Optionen. Sie unterstützen so die Diskussion über verschiedene Va­rianten und erlauben gemeinsame Entscheide. So hilfreich Modelle dabei sind, so wichtig ist es, sich der Grenzen des Modells bewusst zu sein. 

Über die Wetterbedingungen und die ­Fitness der Wandergruppe sagt die Wanderkarte nichts aus. Ein Entscheid über die Wanderroute sollte aber auch diese Dinge mitberücksichtigen. Ein mikroökonomisches Modell sagt auch nichts über die Konjunkturentwicklung oder über psychologische Verhaltensweisen der Akteure aus. Modelle sollten also nicht über ihren Verwendungszweck hinaus überinterpretiert werden. Modelle müssen auch richtig an die Situation angepasst werden. Eine Wanderkarte gilt natürlich nur für das abgebildete Gebiet. Sie ist auch meist ungeeignet, um eine Reise mit dem Auto oder dem Zug zu planen. Die Wahl des geeigneten Modells mit passenden Parametern ist auch in der Ökonomie wichtig, sonst gerät man leicht auf den Holzweg.

Modelle erlauben Experimente

Ob ein Modell richtig oder falsch ist, das ist die falsche Frage. Vielmehr ist zu fragen: Kann ein Modell wichtige Variablen aus einer sonst schwer überschaubaren Realität herausschälen, sodass der Blick auf bedeutsame Zusammenhänge klar wird? Die bessere Frage lautet: Wofür ist ein Modell nützlich? Ein gutes Modell ­erlaubt es, in unbekanntem Terrain bessere Entscheidungen zu treffen. Mit Modellen kann man auch Szenarien durchspielen, die man in der Realität nicht ­wagen würde. Das Bergrestaurant auf direkter Linie anzupeilen, ist in Gedanken auf der Wanderkarte gefahrlos möglich – und man erkennt womöglich, dass man dafür eine gefährlich tiefe Schlucht durchqueren müsste. Ähnlich kann ein ökonomisches Modell den Effekt sehr einschneidender Massnahmen prognostizieren und uns eine Vorstellung über extreme Szenarien geben, die wir in der Realität keinesfalls ausprobieren möchten. Die Felswand zu überwinden oder den Leitzins auf 30 Prozent festzulegen, das überlebt der Wanderer oder die Nationalbankerin im realen Experiment womöglich nicht. Modelle geben uns jedoch die Spielwiese, in der auch abwegige Optionen risikolos getestet werden können.

Jedes KMU verwendet Modelle

Modelle werden aus diesen guten Gründen auch im Management eingesetzt. Ein Beispiel für Modelle, die jedes Unternehmen nutzt, ist die Finanz- und Betriebsbuchhaltung. Auch hier wird eine an sich unüberschaubare Realität, nämlich der Geschäftsgang einer ganzen Unternehmung, kompakt in Zahlen abgebildet. Kennzahlen wie der Cashflow oder die Eigenkapitalquote sind Wegmarken, die manche Details weglassen, aber den Blick auf wesentliche Eigenschaften und Entwicklungen der Unternehmung schärfen. 

Einschränkungen gelten aber auch hier: Der Cashflow mag noch so solide aussehen; wenn ein Unternehmen künftige Veränderungen am Markt ignoriert und etwa neue Konkurrenten oder techno­logische Neuerungen nicht strategisch antizipiert, kann das Unternehmen trotzdem auf einem Irrweg sein. Das Geschäftsmodell in einem Businessplan regelmässig vor Augen zu haben, ist auch für KMU so essenziell wie der Blick auf die Wanderkarte vor einem langen Marsch. Organigramme, Stellenbeschriebe, SWOT-Analysen und anderes mehr sind häufig eingesetzte Modelle, die nie eins zu eins die Realität abbilden, aber hoffentlich nützliche Zusammenhänge aufzeigen und so bessere Entscheidungen ermöglichen.

Auf ein einzelnes Modell allein soll man sich trotzdem nicht verlassen. Die versierte Berggängerin konsultiert neben dem Kartenmaterial auch den (auf Modellen basierenden) Wetterbericht, bevor sie loszieht. Sie wird also für verschiedene Aspekte verschiedene Modelle beiziehen und bei der Interpretation stets auch deren Grenzen im Hinterkopf behalten. So helfen Modelle, mit ganzen Teams in unbekanntem Terrain zu na­vigieren. Die konkreten, praktischen Schritte muss man aber selbst auf den Boden bringen.

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