Forschung & Entwicklung

Unternehmensprozesse

Merkmale von Adaptive-Case-Management-Systemen

Adaptive Case Management (ACM) beschreibt den Umgang mit wissensintensiven, schwach strukturierten Prozessen, deren Verlauf sich nicht vollständig vorhersagen lässt. Der Beitrag ­liefert Aussagen dazu, welche Merkmale ACM-Systeme aufweisen müssen, um die Wissensarbeit im Geschäftsprozessmanagement (GPM) systemtechnisch unterstützen zu können.
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Schon durch Henry Ford geprägt und in der Automobilfertigung angewendet, ist die Steigerung der Effizienz durch ­Automatisierung ein Grundsatz, der die Geschichte der Industrieproduktion bis heute begleitet. Während diese Aussage für Produktionsprozesse noch immer Gültigkeit besitzt, werden andernorts jedoch Wissensarbeiter («Knowledge Workers») an innovativem und situa-tions­gerechtem Wirken gehindert, wenn sie durch immer gleiche Aufgabenlis­ten und Maskenflüsse in unflexible und tendenziell starre Prozessabläufe gezwungen werden (Winterberg, Scheuch & Jessensky, 2014).

Die Herausforderung besteht darin, die Arbeitsgegebenheiten so zu optimieren, dass der Wissensarbeiter durch best­mögliche Entscheidungen einen maxi­malen Nutzen für den Kunden und somit für das Unternehmen erzielen kann. Um dies sicherstellen zu können, sollte der Mensch im GPM stärker als bisher im Betrachtungszentrum stehen. Dies als aktiv Handelnder, der den Prozess kreativ mitgestaltet und dadurch direkt zu dessen Verbesserung beiträgt (Winterberg, Scheuch & Jessensky, 2014).

Situationsbezogen entscheiden

Im Themengebiet ACM geht es, im Wissen einer fehlenden allgemeingültigen Begriffs­definition, um wissensinten­sive, schwach strukturierte Prozesse, deren Verlauf sich nicht vollständig vorher­sagen lässt. Der konkrete Ablauf ergibt sich erst während der Durchführung, wobei die Mitarbeitenden, die den Prozess durchlaufen, ­situationsbezogen entscheiden, welche Schritte als nächste gegangen werden müssen (Allweyer, 2014).

Als Beispiel dient die Behandlung eines Patienten im Spital: Obwohl es hierfür eine Reihe von Vorgaben gibt, beispielsweise bezüglich der Aufnahme und Abrechnung, entscheidet im Einzelfall der jeweilige Arzt, welche Untersuchungen und Therapien durchzuführen sind. Es ist dabei unmöglich, im Vornherein ein komplettes Prozessmodell zu definieren, welches jeden möglichen Behandlungsverlauf abdeckt. Es ist zwar denkbar, anhand von verzweigenden Gateways verschiedene Möglichkeiten in einem Prozess abzubilden, doch ist die Vielfalt aller möglichen Alternativen, besonders bei einer medizinischen Behandlung, zu gross, als dass man diese mit einem üblichen Prozessmodell erfassen könnte. ACM-Systeme lassen zu, solche wissensintensiven, kaum vorhersehbaren Prozesse technisch zu unterstützen. Den Prozessausführenden wird dadurch ein Instrument an die Hand gegeben, welches ihnen ermöglicht, unter anderem auf sämtliche Informationen über den Fall sowie dessen bisherigen Verlauf Einsicht zu erhalten. Damit können die nächsten, prozessualen Schritte situationsbezogen festgelegt werden (Allweyer, 2014). 

Forschungsüberblick 

ACM stellt innerhalb des GPM eine noch junge Disziplin dar, welche im Jahre 2009 im Rahmen eines Treffens von Fachexperten kreiert wurde, die sich einig waren, dass das operative GPM und seine technische Implementierung den Anforderungen von Wissensarbeitern in der heutigen Zeit nicht mehr genügen (Palmer, 2010, in: Kurz & Herrmann, 2011). Eine durch den Autor systematisch durchgeführte Literaturrecherche ergab, dass das Themenfeld ACM breit diskutiert wird. Die meisten Literaturquellen nähern sich dem Thema oberflächlich so­-wie rein deskriptiv und beschränken sich mehrheitlich auf die Klärung, was unter ACM verstanden wird und in welcher ­Relation es zum klassischen Geschäftsprozessmanagement steht. Auch die Nennung der Ziele, der Vor- und Nachteile, der zentralen ACM-Eigenschaften sowie dessen Rollen- und Kompetenzmodelle werden breit thematisiert. 

Bis heute fehlt es jedoch an wissenschaftlich fundierter und nachvollziehbarer Forschung, welche sich der Fragen annimmt, wie ACM technisch konkret unterstützt werden kann, wie es einen Anknüpfungspunkt an ein bereits etabliertes GPM findet und im Besonderen, welche Voraussetzungen, sei dies kultureller, organisatorischer oder unter anderem auch technologischer Natur, gegeben sein müssen, damit es seine volle Wirkungskraft entfalten kann.  

Methodik

Der vorliegende Artikel liefert, aus der Perspektive der Anforderungsanalyse, Aussagen dazu, welche Merkmale ACM-Systeme aufweisen müssen, um die Wissensarbeit im GPM systemtechnisch unterstützen zu können. Dabei stellt sich auch die Frage, worin die zentralen Erfolgsfaktoren bei der Einführung einer ACM-Lösung liegen und welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit ACM als wertgenerierendes Konzept nachhaltig in eine Prozessorganisation eingebettet werden kann. Die Erarbeitung der vorliegenden Erkenntnisse basiert auf einem Cross-sectional-Design, wobei die obengenannten Themen un­ter Verwendung von Leitfaden-Experten-­Interviews adressiert wurden. 

Das Sample der gesamthaft 15 Befragungsteilnehmer (aus 14 Organisationen) folgte dem Ansatz des «purposeful sampling», auf Basis dessen Interview­teilnehmer befragt wurden, die verschiedene Ansichten und Erfahrungen ein­zubringen vermochten (Anwender und Anbieter von ACM-basierten System­lösungen, Wissenschaftsvertreter sowie ­Beratungs- und Consultingfirmen). Die diesem Artikel zugrunde liegende Da­tenauswertung basiert auf den zwei Pfeilern der «Transkription» und der «Qualitativen Datenanalyse». 

Erkenntnisse

Damit ein ACM-System die Wissensarbeiter in der Abwicklung eines kaum vorhersehbaren, schwach strukturierten Prozesses technisch unterstützen kann, bedarf es eines breiten Sets an funktionalen wie auch nichtfunktionalen Anforderungen. Funktional muss das System unter anderem ermöglichen, Prozesse ohne vorgängige Modellierung zu starten, Indikationen zu historischen Case-Abwicklungen zu erhalten, eine Übersicht über die Case-Historie zu gewinnen und zudem Cases bearbeiten, weiterleiten und bei Bedarf eskalieren zu lassen. Auch zeigte sich, dass ein solches System die Möglichkeit bieten muss, Anpassungen zur Laufzeit eines Prozesses vornehmen zu können (siehe Abbildung). 

Auf nichtfunktionaler Ebene scheint besonders die Bedienbarkeit (Usability) durch Wissensarbeitende relevant. Ein ACM-System muss klar verständlich und einfach zugänglich sein. Diese Anfor­derung ist zentral, da Wissensarbeitende bei deren Nichterfüllung Anwendungshürden sehen und darin begründet ­wahrscheinlich weiter bewährte Sys­-teme (beispielsweise individuelle E-Mail-Kommunikation) nutzen werden, was zu Schattenprozessen führt. 

Die Toleranzschwelle der Nutzer wurde seitens der zugrunde liegend Befragten als sehr niedrig eingeschätzt, was den Stellenwert dieser Anforderung deutlich erhöht. ACM sollte weiter nur in einem System (zentral) betrieben werden und somit eine gesamtheitliche Lösung darstellen (wenn möglich webbasiert und ohne grosse Installationsaufwände). Ein ACM-System muss letztlich die Möglichkeit bieten, einen auf die Bedürfnisse einer Organisation ausgerichteten Qualitätssicherungsleitfaden integrieren zu können.

Erfolgsfaktoren adressieren

Die zugrunde liegende Analyse zeigte auf, dass bei einer ACM-Implementierung verschiedene Erfolgsfaktoren zu berücksichtigen sind. Besonders bedeutsam ist, dass bei einem solchen Projekt die Betroffenen frühzeitig über dessen Ziele informiert werden, damit sie die Lösung aktiv begleiten, mit eigenen Ideen anreichern und somit letzten Endes auch (eher) akzeptieren können. Weiter müssen unter anderem auch die potenziellen Ängste der Mitarbeitenden, die entstehen können, wenn deren Wissen und Erfahrung abgegriffen wird, ernst genommen und mit der nö­tigen Umsicht adressiert werden. 

Die Leitungsgremien einer Organisation sollten sich bewusst darüber sein, dass sich mit einer ACM-Lösung die Art und Weise, wie Wissensarbeiter tagtäglich ihre Aufgaben bewerkstelligen, fundamental ändert. Dies setzt seitens der Entscheidungsträger das nötige Bewusstsein voraus, um die neue Art des Arbeitens auch kulturell verankern zu können. 

Um diese Erfolgsfaktoren adressieren und dazu beitragen zu können, dass ACM wirkungsvoll eingesetzt werden kann, müssen mehrere Rahmenbedingungen gegeben sein: Nach den Befragten nehmen im Themenfeld des Wissensmanagements «Incentives» eine gewichtige Rolle ein. Es stellt sich dabei die Frage, was die Menschen motiviert, Wissen zu nutzen, zu dokumentieren sowie weiterzugeben. Diese Frage kann anhand verschiedener Aspekte beantwortet werden: Es gibt zum einen Meinungen, dass dies am zieldienlichsten via ein MbO (Zielvereinbarung) umgesetzt werden kann, wobei sich diesbezüglich die Frage stellt, wie man die Ziele formuliert und hinterher auch prüft. Gemäss den befragten Experten ist dieses Vorgehen nicht zieldienlich. 

Laut ihnen steht das Menschenbild klar im Fokus: Ist dieses in die Richtung ­positiv, dass man davon ausgeht, dass alle Mitarbeitenden sinnstiftend arbeiten möchten, dann sollte man die Be­troffenen auch formell zum Owner ihres Wissens machen und sie bei der ACM-Aufsetzung mitwirken lassen. Die erwähnte Ownership stellt transparent ­sicher, von wem Wissen kommt, und ­ermöglicht dem Wissensarbeiter beispielsweise auch zu analysieren, wie viele Male das eigene Wissen aus einem Case heraus für eine andere Prozessinstanz relevant war. Dies kann eine nicht zu unterschätzende, motivierende Wirkung mit sich bringen.

Weitere Aussagen gingen in die Richtung, dass auch die Kundenorientierung, die Excellence (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess und Innovation leben, eine lernende Organisation fördern), Responsibility (sich intrinsisch für Prozesse verantwortlich fühlen, aber auch for­-male Verantwortlichkeiten festlegen) wie auch die Teamorientierung (abteilungsübergreifend) wichtig zu berücksichtigen sind. Die Faktoren Vertrauen, kulturelles Verhalten sowie eine angemessene Kommunikationskultur spielen zudem eine gewichtige Rolle. In einem ACM-Umfeld sollte den Mitarbeitenden zugetraut werden, nach ihren Möglichkeiten zu arbeiten. 

Weiter zeigte sich, dass in Firmen immer häufiger sogenannte «Center-of-Excellence» vorhanden sind, die sich explizit um GPM-Projekte kümmern. Teilweise wird auch die Rolle des «Knowledge-Officer» eingeführt; jemand, der sich auf Domänenebene mit den Cases befasst und das Thema weitertreibt. Dies ist eine eigenständige Aufgabe und dedizierte Rolle, die die Wertschätzung des Unternehmens für das ACM-Thema widerspiegelt. Häufig sind diese Center in der IT ­angesiedelt. Solche Einheiten definieren auch die Verantwortlichkeiten, können Kulturprojekte auslösen und tragen somit zu zielführenden ACM-Rahmenbedingungen bei. 


Schlussfolgerung und Ausblick

Die zukünftige Entwicklung des ACM-­Themenfeldes und somit auch der ACM-basierten Systemlösungen hängt stark von der Bereitschaft der Organi­sationen ab, Geschäftsprozessmanagement nicht als starre Disziplin Einzel­ner zu sehen, sondern als Lösungsansatz eines modern geführten Unternehmens. Mit Blick in die Zukunft zeigte die Analyse zudem auf, dass sich der wirkliche Erfolg von ACM erst einstellen wird, wenn die Konzeptanwender in der Lage sind, die durch das Abwickeln der Cases generierten Daten analysieren und daraus abgeleitet neue Informationen gewinnen zu können. Die Wichtigkeit der Case-, Prozess- oder Datenanalysten wird damit einhergehend auch im Bereich Case Management an Bedeutung gewinnen.