Forschung & Entwicklung

Industrie 4.0

Mensch, Technik und Organisation smart kombinieren

Industrie-4.0-Technologien bieten immense Potenziale zur Schaffung von Wettbewerbsvorteilen. Doch die Technologien alleine sind nicht ausreichend, um diese nachhaltig zu realisieren. Nicht die Technologien machen den Konkurrenzvorteil aus, sondern ihre intelligente Nutzung durch die Kombination von Mensch, Technik und Organisation.
PDF Kaufen

Anlässlich der ersten olympischen Winterspiele schlug Kanada die Schweiz mit 33:0 Toren. Das war am 30. Januar 1924 in Chamonix. 60 Minuten dauert ein Eishockeyspiel. Die Kanadier schossen also durchschnittlich alle 109 Sekunden ein Tor. Es war nicht so, dass die Schweizer nicht Eishockey spielen konnten. Immerhin gewann sie in den Jahren 1924 und 1925 an den Europameisterschaften jeweils die Bronzemedaille und wurden 1926 sogar Europameister. Aber die Kandier waren unerreichbar. In Chamonix schlugen sie auch die Tschechoslovaken mit 30:0 Toren und die Schweden mit 22:0 Toren. 

Digitalisierung fortgeschritten

Woher kommt der Unterschied? Das ist eine Frage des Spielsystems. Spielen die Kanadier ein moderneres System, überrollen sie die Europäer. Wer die Fähigkeit hat, sein Spielsystem weiterzuentwickeln, generiert so Wettbewerbsvorteile. Wer im alten Spielsystem verharrt, verliert seine Wettbewerbsvorteile und bleibt zurück. Dies auch wenn er mit seinem System Erfolg hatte oder vielleicht auch noch immer hat. Früher oder später wird er von den anderen überholt werden.

Warum interessiert uns dies? Viel wird derzeit von der vierten industriellen Revolution gesprochen, die uns die Digitalisierung bringen soll. Und tatsächlich ist die Digitalisierung in der Schweiz bereits weit fortgeschritten, wie eine aktuelle, repräsentative Untersuchung zeigt, welche die Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW gemeinsam mit der ETH bei schweizerischen Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden durchgeführt hat. Nach Einschätzung der befragten Unternehmen konnten 35 Prozent der Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit durch die Digitalisierung steigern. 59 Prozent konnten sie aufrechterhalten. Der Digitalisierung kommt für die Wettbewerbsfähigkeit des Werkplatzes Schweiz also eine sehr grosse Wichtigkeit zu.

Nutzung noch in den Anfängen

Die Untersuchung zeigt jedoch auch, dass die Revolution noch nicht angekommen ist. Weitverbreitet sind gemäss der Untersuchung Bürosoftware im administrativen Bereich sowie IT-Systeme wie zum Beispiel ERP oder CAD. Auch CNC/DNC-Maschinen und Roboter werden relativ häufig eingesetzt. 

Hingegen steckt die Nutzung neuerer Technologien noch in den Anfängen. Dies legt den Schluss nahe, dass in der Industrie hierzulande die «konventionelle» IT zwar sehr verbreitet ist, eigentliche Industrie-4.0-Technologien sind hingegen (noch) nicht wirklich angekommen. 

Neue Entwicklungen

Mit Industrie 4.0 werden Veränderungen erwartet, deren Basis technische Entwicklungen sind, die eine weitgehende Transformation der industriellen Produktion auslösen werden. Hauptsächliche Entwicklungen sind folgende: 

  • Digitalisierung und damit die weitgehende Realisierung von Geschäftsprozessen im virtuellen Raum.
  • Künstliche Intelligenz (KI), wodurch Software zunehmend lernfähiger wird und damit nicht mehr nur auf vorprogrammierten Algorithmen basiert.
  • Vernetzung physischer Gegenstände (auch Internet der Dinge), welche es erlaubt, dass Gegenstände direkt miteinander kommunizieren.
  • Big Data, beziehungsweise die Verfügbarkeit riesiger Datenbestände, welche beispielsweise völlig neue Erkenntnisse über den Zustand und das Verhalten von Menschen und physischen Objekten erlauben. 

Mit diesen technischen Möglichkeiten lassen sich zahlreiche Zukunftsszenarien ausmalen, wie beispielsweise

  • Augmented Reality anstelle von Arbeitspapieren (Digitalisierung),
  • selbstlernende digitale Zwillinge von Produkten, Produktionsprozessen und Produktionsanlagen (KI und Big Data), die es beispielsweise erlauben, auf der Ebene des Einzelproduktes flächendeckend kleinste Qualitätsabweichungen frühzeitig zu erkennen und entsprechend einzugreifen, schon bevor die traditionelle Qualitätssicherung greifen kann, oder auch 
  • Werkstücke, die ihre Bearbeitungszeit direkt mit den entsprechenden Maschinen aushandeln (Internet of Things). 

In den kommenden Jahren wird noch sehr vieles entstehen, was wir heute nicht für möglich halten oder uns noch gar nicht vorstellen können. Die Erwartungen an den Nutzen, welchen entsprechende Lösungen künftig bringen sollen, sind aber bereits heute schon hoch. Sie sollen beispielsweise Losgrösse 1 ermöglichen oder auch informierte Echtzeitent­scheide zulassen, um die Qualität und Produktivität zu steigern. 

Radikale Veränderungen

Entsprechende Industrie-4.0-Lösungen, die noch weitgehend in den Kinderschuhen stecken, sind jedoch nicht einfach nur graduelle Optimierungen. In seinen «Thesen zur Digitalisierung» zeigt Scheer auf, welche radikalen Veränderungen davon erwartet werden können. Unter anderem gehören dazu folgende:

Industrie-4.0-Projekte sind durchdringend

Industrie 4.0 ist weit mehr als die Fabrik­automation durch miteinander kommunizierende, selbstlernende Dinge (sogenannte Cyber Physical Systems). Anders als in früheren Automatisierungsschüben durchdringen Industrie-4.0-Projekte organisatorische Grenzen. Sie sind nicht an Organisationseinheiten gebunden, sondern betreffen immer mehrere Abteilungen einer Organisation und sind auch überbetrieblich. So bedingt zum Beispiel die Ausschöpfung der Potenziale Industrie-4.0-basierter Produktionstechnologien eine darauf abgestimmte Produkt-
entwicklung wie auch ein darauf abgestimmtes logistisches Netzwerk. 

Techniken werden zu Dienstleistungen

Die zunehmende Komplexität von Techniken erfordert hohe Kompetenz. Es ist schwierig, diese vollumfänglich inhouse sicherzustellen. Dies kompensieren externe Provider, die die technische Funktionalität als Dienstleistung anbieten. Solche Provider haben auch den Vorteil, dass sie über viele Anwendungen verfügen und daher auf Big Data zurückgreifen können. Für den einzelnen Industriebetrieb bedeutet dies jedoch, dass die externen Provider in der eigenen Produktion tätig sein werden, was unter anderem ganz neue Herausforderungen an den Schutz von Kernkompetenzen stellen wird. 

Tendenz zur Sharing Economy

Weil die Digitalisierung neue Dienstleistungen hervorbringt, steht für viele Produkte nicht mehr das Eigentum im Vordergrund, sondern der Zugriff auf deren Funktionalität. So kann eine Ressource vielen Nachfragern abwechslungsweise zur Verfügung stehen. Aber auch daraus entstehen neue Herausforderungen an die Zusammenarbeit im Spannungsfeld von Kooperation und Konkurrenz. 

Tendenz zur flachen Welt

Sowohl organisatorische als auch technologische Hierarchien können in Industrie-4.0-Projekten aufgelöst werden. Jede Komponente kann mit jeder anderen direkt kommunizieren. Eine hierarchische IT-Struktur braucht es keine mehr. Erwartet wird, dass sich vor diesem Hintergrund auch hierarchische Dienstwege in den Organisationsstrukturen teilweise auflösen werden. Dies nur schon deshalb, weil solche Dienstwege die Reaktionszeiten erhöhen. Entsprechend werden auch Führungsmodelle weiterentwickelt werden müssen. 

Software wird zentral

Software ist die wichtigste Ressource in der digitalen Welt. Sie ermöglicht die Gestaltung neuer Prozesse sowie Dienstleistungen und verwaltet oder analysiert Daten. Die Beherrschung von Software wird zur wichtigsten Unternehmensressource.

Grosse Potenziale nutzen

Diese Prognosen machen eines sehr deutlich: Industrie-4.0-Technologien bieten immense Potenziale zur Schaffung von Wettbewerbsvorteilen. Die Technologien alleine sind aber nicht ausreichend, um diese Potenziale nachhaltig zu realisieren. Vielmehr geht es darum, zu erkennen, welche neuen Möglichkeiten für die Prozessgestaltung in den Technologien stecken. Damit sind nicht nur Automation und neue technische Verfahren angesprochen, sondern vor allem auch neue Formen betriebsinterner und  übergreifender Zusammenarbeit. Letztendlich machen also nicht die Technologien den Konkurrenzvorteil aus, sondern ihre intelligente Nutzung durch die smarte Kombination von Mensch, Technik und Organisation. 

Aber auch davon ist in der Schweizer Industrie noch nicht viel entstanden. Wie oben beschrieben, gehen die entsprechenden Konzepte beispielsweise davon aus, dass Hierarchien flacher werden. 90 Prozent der befragten Betriebe geben in der repräsentativen Untersuchung zum Stand der Digitalisierung in der Schweiz jedoch an, dass sich die Anzahl Führungsstufen bei ihnen in den letzten drei Jahren nicht verändert hat. 

33:0 endete das Spiel Kanada - Schweiz in Chamonix. Die Kanadier spielten ein massiv überlegenes System. Im alten System besser zu werden, reicht vielleicht für ein besseres Resultat. Um Kanada zu schlagen, reicht es aber nicht. Auch in Industrie 4.0 steckt viel Potenzial zur Weiterentwicklung der industriellen Produktion. Nur ist davon noch nicht viel realisiert. Um sie auszuschöpfen sind neue Formen der smarten Kombination von Mensch, Technik und Organisation zu entwickeln. Nur so lassen sich Wettbewerbsvorteile sichern und weiterentwickeln. Und nur so lässt sich verhindern, dass uns andere überholen.

Porträt