Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Mensch, das bildest du dir ein. Ja hoffentlich!

Veränderungen lassen sich im Unternehmen nicht einfach verordnen. Menschen müssen das Neue selbst am eigenen Leib erfahren und durchleben. Wie also können Veränderungen erfolgreich angestossen werden?
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Wir sind eigentlich gut darin, uns zu verändern. Denn das Leben fordert von uns stets Veränderungen ein. Trotzdem höre ich – wenn ich mit Organisationen zusammenarbeite – sehr oft Folgendes: Die Vielzahl der Veränderungen überfordert uns und unsere Mitarbeitenden. Veränderungen sind schwierig zu managen. Unsere Mitarbeitenden verändern sich ungern. Meine Antwort darauf ist stets: Das stimmt (meistens) nicht. 

Eine Denkreise in sechs Schritten

Eine solche pessimistische Perspektive auf Veränderungen ist Folge eines zu statischen Bildes von Organisationen, beherrscht von fixierten Strukturen und Prozessen. Wir müssen aber vielmehr den Menschen und dessen reichhaltige persönliche Erfahrung gelebter Veränderung in den Vordergrund rücken. Denn mit diesem Fokus geht das Managen von Veränderungen leichter von der Hand. Gerne möchte ich Sie in sechs Schritten auf eine Denkreise mitnehmen, in deren Verlauf Sie hoffentlich neue Ansatzpunkte für anstehende Veränderungen gewinnen. Rücken wir dafür in einem ersten Schritt den Menschen in den Vordergrund, der uns am nächsten steht: uns selbst. Vergegenwärtigen Sie sich hierfür kurz, wo Sie sich im Moment befinden; in Ihrem Beruf und Ihrem Leben allgemein. Wenn Sie nun jemandem erzählen würden, wie genau Sie dorthin gekommen sind, dann würden Sie einiges zu erzählen haben.

All Ihre Geschichten würden Zeugnis davon ablegen, dass Sie grundsätzlich gut darin sind, sich zu verändern. Denn Sie haben in all diesen Situationen – bewusst oder unbewusst – um Lösungen gerungen, die Sie schliesslich dorthin geführt haben, wo Sie sich heute befinden. Sie haben agiert und reagiert, und sich dadurch nach und nach verändert. Dies ist eine nicht kleine Leistung. Übertragen Sie in einem zweiten Schritt diese persönliche Leistung auf eine Organisation. Und stellen Sie sich vor, dass jede Organisation letztlich nichts anderes ist als ein Zusammenschluss von Menschen mit persönlichen Veränderungserfahrungen. Es entsteht das Bild einer Organisation, die in erster Linie aus Menschen mit reichhaltigen Erfahrungen besteht, und nur auf den zweiten Blick aus Strukturen und Prozessen.

Organisationen sind die Summe der gemeinsam durch­lebten Erfahrungen

Nehmen Sie in einem dritten Schritt aber zur Kenntnis, dass Organisationen viel mehr sind als die Summe der einzelnen Lebenserfahrungen. Denn Menschen machen in einer Organisation gemeinsame Erfahrungen, die sie alleine nicht machen würden. Zu den persönlichen Erfahrungen von Veränderung gesellen sich also neue Erfahrungen, die gemeinschaftlicher Natur sind. Die Fülle dieser gemeinsam durchlebten Erfahrungen formen über die Zeit die jeweilige Identität der Organisation. Die Sozialwissenschaft spricht in diesem Fall von einer «imagined community», von einer «vorgestellten» Gemeinschaft. Dies bedeutet, dass Menschen als Folge gemeinsam durchlebter Erfahrungen sich ein Gemeinschaftsgefühl und eine Identität «einbilden». Denn im Kopf jedes Einzelnen entsteht durch gemeinsame Erfahrungen eine real gelebte Vorstellung der Gemeinschaft. Und diese Vorstellung vereint, weil jeder weiss, dass auch die Anderen die gleichen Erfahrungen durchlebt haben.

In einer Organisation entsteht also – trotz der Verschiedenheit der individuellen Erfahrungen – ein «vorgestelltes» Gemeinschaftsgefühl. In einem vierten Schritt sollten Sie sich – von der Idee der «vorgestellten» Gemeinschaft abgeleitet – Folgendes vornehmen: Stossen Sie Veränderungen stets dadurch an, indem Sie den Mitgliedern der Organisation ermöglichen, gemeinsam eine neue Erfahrung zu durchleben. Es reicht nicht aus, wenn Sie das Neue verordnen oder erklären.

Menschen müssen das Neue selbst am eigenen Leib erfahren und durchleben, erst dann können Sie es – im wahrsten Sinne des Wortes – «begreifen». In der Veränderungsliteratur spricht man hier von dem notwendigen Prozess der «Sinnstiftung», den jeder Einzelne durchlaufen muss. Und dies geschieht eben am besten durch konkretes Handeln, nicht durch blosses Denken. Dieser Prozess der Sinnstiftung durch konkretes Handeln dient einerseits jedem Einzelnen, die Veränderung zu «begreifen». Andererseits dient dieser Prozess der Sinnstiftung aber auch der Entwicklung eines neuen «eingebildeten» Gemeinschaftsgefühls. Dadurch, dass das Neue gemeinsam durchlebt wird, wird es Teil des gemeinsamen Erfahrungsschatzes und dadurch Teil der Organisation. Das Neue bleibt dadurch nicht dauerhaft fremd, sondern wird über das gemeinsame Handeln integriert. 

Ohne die Klarheit der Ziele sind alle Wege Irrwege

In einem fünften Schritt sollten Sie sich eine dicke Haut zulegen. Denn wie der oben beschriebene Prozess der Sinnstiftung genau abläuft, ist niemals genau vorauszusehen. Mal geht es schneller, mal geht es langsamer. Überraschende Wege werden unter Umständen eingeschlagen, vielleicht ergibt sich sogar der eine oder andere Umweg. Eine dicke Haut müssen Sie sich zulegen, weil sie dies geschehen lassen sollten. Denn solche überraschende Wege gehören dazu, wenn die Gemeinschaft Neues erlebt. Sie müssen also Vertrauen entwickeln, dass die Gemeinschaft sich in die richtige Richtung verändert, auch wenn eine klare Richtung oder ein positives Ergebnis nicht gleich sichtbar wird. Dieses Vertrauen können Sie entwickeln, weil Sie aus dem ersten Schritt wissen, dass jeder auf einen grossen Erfahrungsschatz im Umgang mit Veränderungen zurückgreifen kann und jeder diesen Erfahrungsschatz automatisch einbringt, wenn Neues durchlebt wird. Es gibt also gute Gründe, nicht davon auszugehen, dass Veränderung immer schwierig ist und Ihre Mitarbeitenden grundsätzlich widerständig sind. Mit dieser dicken Haut müssen Sie sich in einem sechsten Schritt als starker und treuer Begleiter einer Veränderung erweisen.

Ein starker und treuer Begleiter zeichnet sich dadurch aus, dass er für Klarheit sorgt und unterstützt. Menschen und Gemeinschaften brauchen einen Kompass, der Ihnen erlaubt, sich überhaupt zu bewegen und Erfahrungen zu sammeln. Es braucht Klarheit über die grundsätzlichen Ziele. Diese Ziele sind Grundlage für das gemeinsame Suchen nach dem besten Weg, für das gemeinsame Durchleben von Veränderung. Ohne diese Klarheit der Ziele sind Wege nicht Wege und Umwege nicht Umwege, sondern allesamt Irrwege. Neben dieser Herstellung der Klarheit braucht es kontinuierliche Hilfestellung. Die neuen Wege zum Ziel werden – gemäss Schritt vier – von den Menschen selbst gefunden. Dies ist aber nicht immer einfach. Deshalb unterstützt ein starker und treuer Begleiter die Menschen dabei, dass Sie diejenigen Werkzeuge vorfinden, die sie zur Beschreitung des Weges benötigen. Auch in diesem sechsten Schritt steht also wieder der Mensch im Zentrum, der grundsätzlich bereit und fähig ist zur Veränderung, aber zuweilen etwas Unterstützung braucht.

Diese Kolumne hat nun bewusst nicht über Prozesse und Strukturen geschrieben. Sie hat einen Kontrapunkt gesetzt und in sechs Schritten den Menschen ins Zentrum gerückt als Grundlage und grösste Res­source für Veränderungen. Sie hat den Menschen ins Zentrum gerückt, weil der Mensch sich grundsätzlich alles vorstellen kann, und damit eine grundsätzlich positive Perspektive auf Veränderungen möglich wird. Veränderung als Chance; so sehen wir es doch alle, oder?

Haben Sie auch gute Gründe, Veränderung als grundsätzlich positive menschliche Erfahrung zu sehen? Dies würde mich interessieren; schreiben Sie mir doch: ingo.stolz@hslu.ch.

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