Innovation ist im Trend und allseits gefragt. Es gibt kaum ein Unternehmen, welches nicht permanent auf der Suche nach Innovation ist. Auch viele gesellschaftlichen und politischen Diskussionen über die grossen Herausforderungen der Menschheit führen zum Schluss, dass die Innovation der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme sein wird. Ob auf der Suche nach Marktwachstum oder CO2-Reduktionen – die Innovation wird es richten. Siehe zum Beispiel die überschätzten Green-Economy-Initiativen (Handelszeitung vom 17.6.2019) oder den «Green New Deal», wie es die Amerikaner anlehnend an den New Deal der 1930er-Jahre nennen.
Innovation ist «die» omnipräsente Lösung. Auf den ersten Blick mag dies so aussehen. Schaut man jedoch etwas genauer hin, dann eröffnet dieser zweite Blick eine Sicht hinter den Nebel: Nämlich Innovation als Brandbeschleuniger der Konsum- und Überflussgesellschaft. Zugegeben eine sehr provokante Feststellung.
Innovationen haben auch etwas Toxisches
Doch was es damit auf sich hat, zeigen die folgenden Erläuterungen. Bildungssprachlich bedeutet der Begriff «Innovation» Einführung von etwas Neuem (abgeleitet vom lateinischen innovare – erneuern). Betriebswirtschaftlich wird der Begriff Innovation definiert als eine Neuerung, welche erfolgreich vom Mark aufgenommen wird. Für die Wirtschaft sind Innovationen wichtige Treiber des Unternehmens und damit des Wohlstandes für die Gesellschaft (Ebers, 2016). Die Kraft der Innovation liegt unter anderem darin, dass sie den Unternehmen eine Marktstellung sichert, aber vor allem auch neue Absatzmöglichkeiten eröffnet. So überrascht es nicht, dass Innovationen seit langem als Grundlage für Wachstum identifiziert wurden (Lay, 1997). Und genau diese Kombination, Wachstumsstreben und Innovationsdrang ist es, welche der Innovation etwas Toxisches verleiht. Dann nämlich, wenn Innovation einzig am Markterfolg und Wachstum gemessen wird. Doch neu ist nicht einfach besser! Denn wir erleben es alle, nicht jede als Innovation «getarnte» neue Technologie oder jedes neu lancierte Produkt oder jede neue Dienstleistung schafft neben dem gewünschten Konsumwunsch einen gesellschaftlichen Nutzen. Beispiele gefällig: Welchen zusätzlichen Nutzen für die Gesellschaft hat die x-te Sneaker-Marke, die neuste Version des Smartphones oder, ganz konkret, ein Raumspray mit Essensgeruch (Firma Reimarom) oder «Rokko No Mizu»-Wasser. Es wird aus dem japanischen Rokko-Gebirge gewonnen und wird zu Höchstpreisen von über 100 Euro pro Liter nach Europa geliefert und verkauft.
Gesellschaftlicher Fortschritt als Messgrösse
Solche Innovationen haben einzig und alleine den Zweck, den anbietenden Unternehmen Umsätze zu bescheren. Gut – kann man auch anders sehen. On ist wirklich ein Schmuckstück und so trendig – muss ich auch haben. Und wer sich ein Wasser für über 100 Euro leisten kann, soll doch. Na ja – stimmt auch wieder. Aber all diese Dinge haben eines gemeinsam – sie verbrauchen und zehren an den knappen Ressourcen unserer Erde und belasten die Umwelt: Bei der Herstellung, dem Transport und beim Entsorgen. Und das ist Gift und gefährdet das Überleben der Menschheit auf dieser einen und einzigen Erde, die wir zur Verfügung haben. Und das alles ohne einen «echten» Nutzen für die Menschen zu stiften. Man könnte auch sagen, diese Produkte bringen uns als Gesellschaft nicht weiter, es ist kein Fortschritt, im Gegenteil. Und hier sind wir genau am Punkt: Innovation wird nicht am Nutzen für einen gesellschaftlichen Fortschritt gemessen, sondern vor allem am Marktumsatzpotenzial. Der Drang nach Innovation befeuert somit die Absatzmärkte und führt aus dieser Logik zu immer kürzeren Lebenszeiten von Produkten. Das Neue kommt und das Alte muss gehen. Je mehr Neues kommt, umso mehr Altes muss gehen. Kürzere Innovationszyklen bedeuten schnelleres Produzieren (Ressourcenverbrauch) und Wegwerfen (Ressourcenverschwendung).
Sinnentleerter Innovationsbetrieb belastet die Umwelt
Was wäre, wenn wir nicht die Innovation per se feiern, sondern den gesellschaftlichen Nutzen von neuen Produkten mehr in den Vordergrund rückten? Neuerungen konsequent auf den echten Nutzen für die Menschen überprüften? Und im Gegenzug die kreativen Potenziale mehr auf das Lösen von gesellschaftlichen Problemen ausrichten würden? Dann stünde der Fortschritt wieder mehr im Fokus und weniger der sinnentleerte Innovationstrieb. Weg von Produkten, welche Bedürfnisse befriedigen (oder besser wecken oder suggerieren), welche wir zuvor gar nicht hatten. Innovationsabteilungen würden wieder zu Forschungs- und Entwicklungsabteilungen mit dem Ziel, Lösungen für (gesellschaftlich) relevante Probleme zu finden und das Leben der Menschen zu bereichern. Viele Produkte auf dem Markt sind kein Fortschritt – aber sie bescheren diesen Unternehmen Umsatz und Gewinne und halten die auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaft in Fahrt. Das ist oft ihre einzige Daseinsberechtigung.
Hinter dem Innovationsnebel verbirgt sich nämlich ein riesiger Berg von Abfall. Derzeit verzeichnen wir weltweit circa zwei Milliarden Tonnen Müll. Geht es so weiter, werden es 2050 rund 3,4 Milliarden Tonnen sein (= 3 400 000 000 000 kg). Und bevor diese zu Abfall werden, werden für die Herstellung und den Vertrieb dieser Produkte wertvolle Ressourcen verbraucht und die Umwelt belastet. Fünf Prozent der weltweiten CO2-Produktion entsteht einzig durch die Müllverbrennung (Weltbank, 2018). In der Schweiz entstehen jährlich rund 80 bis 90 Millionen Tonnen Abfall. Damit hat die Schweiz mit 716 kg Abfall pro Person und Jahr eines der höchsten Siedlungsabfallaufkommen der Welt. Die Umweltbelastung aus der Bereitstellung der Rohstoffe fällt aufgrund des hohen Importvolumens zu 75 Prozent im Ausland an (Bafu, 2021).
Zeigt sich hinter dem Nebel des unaufhörlichen Innovationsstrebens etwa ein Problem? Eventuell – aber wir finden dazu sicherlich eine innovative Lösung …