Diskussionen und Prognosen rund um die generative künstliche Intelligenz (genKI) beziehungsweise um die grossen Sprachmodelle (sogenannte Large Language Models, LLMs) reissen nicht ab. Zu Recht, denn diese sehr vielseitig einsetzbare Technologie steht wohl erst am Anfang. Nicht nur die dahinterliegenden Modelle entwickeln sich weiter, sondern vor allem die Anwendungsfälle nehmen zu. Während die Diskussionen meist um Produktivität, Effizienz und Automatisierung kreisen, ist eine weitere Frage zentral: Was bedeutet der Einsatz von genKI für das Lernen? Wird genKI zum Motor für gezielteren Kompetenzerwerb – oder steht sie diesem im Gegenteil im Weg?
Lernen im Arbeitsprozess
Learning-on-the-Job ist seit jeher ein zentrales Element beruflicher Weiterentwicklung. Wer im Projektkontext neue Tools erlernt, komplexe Aufgaben analysiert oder Rückmeldungen verarbeitet, erweitert seine Kompetenzen unmittelbar im Tun. Gerade das eigenständige Formulieren von Gedanken – etwa in E-Mails, Berichten oder Konzepten – spielt dabei eine wichtige Rolle. Schreiben bedeutet hier nicht nur Output respektive Kommunikation, sondern auch kognitive Strukturierung beim Schreibenden: Wer etwas erklären will, muss es zuerst verstehen.
Die Verfügbarkeit von genKI verändert diesen Prozess grundlegend. Mitarbeitende können heute einen Prompt formulieren und sich innerhalb von Sekunden ein Dokument, eine Gliederung oder einen Antwortvorschlag liefern lassen. Was früher Zeit, Recherche, Reflexion und mehrfaches Überarbeiten erforderte, wird nun in einem Bruchteil der Zeit von einem elektronischen Assistenten erledigt – scheinbar mühelos. Doch was häufig einen unmittelbaren Effizienzgewinn bringt, wirft eine tiefer gehende Frage auf: Gehen hier nicht auch laufend Lerngelegenheiten verloren, sodass einzelne Mitarbeitende – und mit ihnen längerfristig auch das Unternehmen – Wissen und Know-how nicht aufbauen können?
Zur Beantwortung lohnt sich ein Blick auf die Thesen von Nicholas Carr, der sich in seinem Buch «The Shallows – What the Internet Is Doing to Our Brains» mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf das menschliche Denken beschäftigt. Carr argumentiert, dass Werkzeuge wie das Internet nicht nur unseren Informationszugang verändern, sondern auch die Art, wie wir denken, lernen und verstehen. Unser Gehirn passt sich den Strukturen des Mediums an. Was wir an Bequemlichkeit gewinnen, bezahlen wir oft mit einem Verlust an Tiefe, so Carr.
Lernen oder nur erledigen?
Wer beim Schreiben, Strukturieren oder Entscheiden ausschliesslich auf die Unterstützung eines Sprachmodells zurückgreift, überspringt im schlechteren Fall jene mentalen Prozesse, die für einen nachhaltigen Kompetenzerwerb entscheidend sind. Wer eine E-Mail formuliert, reiht nicht nur Wörter aneinander: Sie oder er sortiert Argumente, wägt Formulierungen ab, antizipiert mögliche Reaktionen. Dieser stille Denkprozess ist nicht sichtbar – wird aber potenziell durch genKI ersetzt. Und das, ohne dass dies unmittelbar auffällt.
Nicht ohne Grund war und ist gerade an Hochschulen das Verfassen von Seminar- und Abschlussarbeiten ein wichtiger Teil des Lehrprogramms. Bezeichnenderweise ist es jedoch zunehmend schwierig, dies von den Studierenden noch so einzufordern, wie es lange Zeit der Standard war, da auch sie sich selbstverständlich von den immer potenteren Sprachmodellen unterstützen lassen. Sie sollen es ja auch tun, schliesslich wird der Umgang mit KI auch im Berufsleben erwartet.
In Fallstudien über verschiedene Anwendungen von KI und deren Auswirkungen auf berufliche Tätigkeiten, die ich zusammen mit meiner Kollegin Ute Klotz durchgeführt habe, zeigte sich ein weiteres Problem für junge Nachwuchskräfte und Quereinsteiger: Mit zunehmender Automatisierung fallen einfachere Aufgaben weg. Dadurch entfallen auch Lerngelegenheiten für die Anfänger in einem neuen Tätigkeitsbereich. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an alle Arbeitskräfte, weil sich Menschen zunehmend mit den komplexeren und kreativeren Aufgaben auseinandersetzen müssen, die für KI weniger geeignet sind. Kurz, die Ansprüche an die Menschen steigen, die alltäglichen Lerngelegenheiten fehlen aber.
Optimistische Perspektive: KI als Lernverstärker
Diesen pessimistischen Gedanken steht eine optimistische Sichtweise gegenüber: Sinnvoll eingesetzt kann genKI das Lernen gezielt beschleunigen und vertiefen. Wer iterativ mit einem Sprachmodell arbeitet, sich Vorschläge generieren lässt, diese kritisch hinterfragt, umformuliert und weiterentwickelt, der durchläuft sehr wohl kognitive Prozesse. Mehr noch: Die genKI kann Rückfragen provozieren und alternative Perspektiven aufzeigen. Und sie kann praktisch alles, was einmal im World Wide Web veröffentlicht wurde, verdichtet wiedergeben und mit eigenen Gedanken oder Absichten in Zusammenhang bringen. Das kann ungemein inspirierend sein, und man kann sich auf eine Informationsmenge abstützen, wie es sonst unmöglich wäre.
KI-gestützte Lernplattformen oder Chatbots, die als persönliche Tutoren zur Seite stehen, bieten personalisierte Begleitung, simulieren Dialoge oder generieren Aufgaben auf Niveau und Interessenlage des Lernenden. Lernprozesse werden damit individualisierter und potenziell effektiver. Zum Beispiel ist auch die inzwischen recht einfach umzusetzende Möglichkeit spannend, beliebige Inhalte in einen Podcast zu verwandeln. Diesem Podcast kann man nicht nur zuhören, sondern auch den künstlichen Stimmen Fragen stellen, die sie sogleich beantworten, vergleichbar mit einem persönlichen Tutor.
Technooptimisten betonen oft, dass man zu leicht die Vorteile des Alten überhöht und das Neue übersieht. Früher galt es bei vielen als unabdingbar, Latein und Altgriechisch zu lernen, um überhaupt wissenschaftlich und logisch denken zu können. Diese Sicht hat sich inzwischen stark verändert. Möglicherweise erscheint es bald schon ähnlich sinnlos, das Tastaturschreiben zu erlernen, wie es heute kaum noch jemandem in den Sinn kommt, Stenografie zu lernen. (Für die Jüngeren: Eine Kurzschrift, mit der man in Echtzeit mitschreiben konnte.) Dies weitergedacht, könnte das Lesen zwecks Lernens und Instruktion bald an Bedeutung verlieren.
Sprache ist zentral
Allerdings ist Schreiben etwas Elementares. Der weltberühmte Historiker Yuval Noah Harari hat in einem Artikel der Zeitschrift The Economist die Schrift mit dem «Betriebssystem menschlicher Zivilisation» verglichen. Er befürchtet, dass mit dem Siegeszug der Sprachmodelle nicht weniger als diese Zivilisation auf dem Spiel steht. Dabei seien die gelegentlichen Fehler der KIs, die sogenannten Halluzinationen, noch das geringere Problem im Vergleich zur Gefahr, dass die Sprachmodelle auch ganz bewusst in eine bestimmte politische Richtung neigen können.
Wie beim Lesen oder beim Nutzen anderer Quellen müssen wir uns daher auch beim Einsatz von KI bewusst machen, welches Werkzeug wir wählen und mit welchen Interessen es verbunden ist. Wer genKI nutzt, übernimmt nicht nur ihre Vorschläge, sondern entscheidet implizit auch, welchen Quellen er traut und wie er damit umgeht. Das braucht eine hohe Informationskompetenz. Die Voraussetzung dazu? Dass man dies gelernt hat …
Motivation, zu lernen, ist entscheidend
Gezieltes Lernen ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Manche Studien befürchten eine neue «metakognitive Faulheit»: Warum soll ich mich heute noch mit so komplizierten Dingen wie Preiselastizitäten, den Aminosäuren oder Konzernrechnungen auseinandersetzen, wenn ich doch stets einen allwissenden Chatbot bei mir habe, der mir im Bedarfsfall gerne und im Detail Auskunft gibt? Warum dieses Lehrbuch durcharbeiten, wenn ich davon in Sekunden eine Zusammenfassung habe, die mir die springenden Punkte übersichtlich auflistet?
Solche Überlegungen wurden schon beim Aufkommen der Suchmaschinen angestellt. Lernen heisst viel mehr als Wissensaneignung. Lernen heisst, mit Wissen umgehen zu können und die richtigen Fragen zu stellen. Im Zeitalter der Sprachmodelle ist das eine Schlüsselkompetenz. Aber um dies zu können, muss man sich zuvor mental anstrengen – und zum Beispiel Texte wie diesen hier zu Ende lesen.