Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Glauben Sie an Geister? Ich schon.

In den meisten Unternehmen und Organisationen spukt es, Geister treiben darin ihr Unwesen. Davon bin ich mittlerweile überzeugt.
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Ich habe Befürchtungen, diese beiden Sätze an den Anfang meiner ersten Kolumne für das «KMU-Magazin» zu stellen. Denn ich sehe Sie als Leser oder Leserin jetzt schon zweifeln, an mir als Kolumnist und an dieser Kolumne. Aber ich bitte Sie, haben Sie einen Moment Geduld. Ich könnte mir vorstellen, dass ich Sie ebenfalls davon überzeugen kann, dass es in Ihrem Unternehmen spukt. Und wenn Sie den Spuk erkennen, dann können Sie die Geister, die Sie vielleicht unwissentlich riefen, auch wieder loswerden. Denn ohne solche Geister geht es Ihnen und Ihrem Unternehmen viel besser.

Ein wahrgenommener Spuk ist ein Gruppenphänomen

Aber eins nach dem anderen. Ich kam anlässlich eines Apéros zufällig mit einem Parapsychologen ins Gespräch, nennen wir ihn in dieser Kolumne Reto. Parapsychologen beschäftigen sich mit rational nicht erklärbaren Phänomenen, wie eben beispielsweise Geistererscheinungen. Neugierig wurde ich, als Reto betonte, dass auch er selbst nicht an Geister glaube: «Geister gibt es nicht», so sagte er, «aber es gibt Menschen, die an Geister glauben. Und es sind diese Menschen, die mich interessieren. Warum glauben sie an Geister? Warum meinen sie diese zu sehen? Die Antworten auf diese Fragen interessieren mich. Nicht ob es Geister wirklich gibt; denn die gibt es nicht.» Und als Reto dann von seiner Arbeit mit Menschen erzählte, die meinen, Geister zu sehen, wurde mir die Relevanz seiner Arbeit für Unternehmen deutlich. Denn in fast jedem Unternehmen «spukt» und «geistert» es, zumindest wenn wir nicht aufpassen. Aber nochmals einen Schritt zurück. Reto arbeitete an einem einer deutschen Universität angegliederten Parapsychologischen Institut. Menschen, die Geister sehen, können sich dort melden, um Hilfestellung dabei zu erhalten, den Geisterspuk zu beenden. Und so reist Reto mit seinem Team regelmässig umher, um mit den betroffenen Menschen gemeinsam auf die Geistererscheinung zu warten – dort, wo die Menschen sie eben jeweils sehen – um dem Spuk sofort ein Ende zu bereiten. Typischerweise findet sich Reto also irgendwo in irgendeiner Wohnung wieder und wartet – meistens nachts – auf den Spuk. Interessanterweise wartet er fast immer gemeinsam mit mehreren Menschen – zum Beispiel einer Familie – die alle einhellig beteuern, den Spuk wiederholt gesehen zu haben. So zum Beispiel, dass das Licht im Wohnzimmer stets um soundso viel Uhr anfange zu flackern, der Herd in der Küche sich selbstständig entzünde oder eine Stimme von oben mit ihnen spreche. Denn über 90 Prozent der berichteten Geistererscheinungen werden von jeweils mehreren Menschen gleichzeitig wahrgenommen und bestätigt. Ein wahrgenommener Spuk ist also ein Gruppenphänomen.

Auf der Suche nach einem verdrängten Tabu

In dieser Situation – nachts wartend – beginnt Reto seine Arbeit, und es gelingt ihm tatsächlich fast immer den Spuk zu beenden. Interessanterweise beendet er den Spuk, obwohl er anlässlich seiner nächtlichen Besuche noch nie selbst einen Spuk miterlebt hat. Wie er den Spuk dennoch beendet und was er diesbezüglich entdeckt hat, ist aber von unmittelbarer Relevanz für unsere Unternehmen und für gutes Management. Während des nächtlichen Wartens auf den Spuk fängt Reto nämlich an, ein Gruppengespräch zu moderieren, ganz unauffällig und behutsam. Es soll der Eindruck eines freundlichen, natürlichen und scheinbar zufälligen Geplauders unter den Wartenden entstehen. Aber Reto verfolgt mit dem von ihm geführten Gruppengespräch ein ganz spezifisches Ziel: Er will wissen, was die Gruppe gemeinsam verheimlicht! Denn aufgrund Retos Erfahrung weiss er eines ganz genau: Alle Gruppen, die einhellig eine Geistererfahrung beschreiben, hüten ein Geheimnis. Oder anders formuliert: Ein Spuk entsteht dann, wenn eine Gruppe von Menschen sich entschieden hat – bewusst oder unbewusst – über etwas nicht zu sprechen und dies zu verheimlichen. Zu verheimlichen vor anderen, insbesondere aber vor sich selbst.

Mit seinen Fragen ist Reto also auf der Suche nach einem von der Gruppe verdrängten Tabu. Und wenn es Reto gelingt, dass die Gruppe tatsächlich beginnt über Schmerzhaftes zu sprechen, zum Beispiel über den Sohn der Familie, der vor über einem Jahr spurlos verschwunden ist, oder über die Affäre, die der ältere Bruder mit der Frau seines jüngeren Bruders hat, dann weiss er, dass er ein Tabu offengelegt hat. In dieser Situation ist nun sein gesamtes psychologisches Geschick verlangt, denn mit dem Tabu werden verdrängte Emotionen frei, die gleich in diesem Gruppengespräch in konstruktive Bahnen geleitet werden müssen. Er weiss dann aber auch, dass der Spuk zum Verschwinden gebracht ist; denn er erhält stets folgende Rückmeldung: «Der Spuk fand während Ihres Besuches zwar nicht statt, aber seit Sie da waren, ist er nicht mehr in Erscheinung getreten. Es hat einfach aufgehört.» Reto fasst zusammen: «Es ist ganz banal. Wenn man ein Problem ignoriert, dann verschwindet es eben nicht. Es kann ein ganz eigenartiges Eigenleben annehmen. Es lebt weiter gerade deshalb, weil man nicht darüber spricht und sprechen will. Und dieses Eigenleben nimmt eine jeweilige Gruppe dann manchmal als Spuk war, als eine Geistererscheinung. Der Spuk verschwindet aber immer dann, wenn man Luft an die Sache bringt, das Tabu endlich anspricht, das schlechte Gruppengewissen adressiert und entlastet. Dann bekommt man das alles wieder unter Kontrolle, so schmerzhaft der Weg für die Gruppe auch manchmal ist. Man bringt einfach Transparenz in die Sache. Und die vermeintlichen Geister verschwinden.»

Ein Rezept gegen den «Spuk»

Wie faszinierend, so denke ich, und wie relevant auch für uns Unternehmer. Denn wie oft entscheiden wir uns in unserem Unternehmensalltag, etwas nicht anzusprechen, Probleme zu vertagen und unangenehme oder komplizierte Sachverhalte unbesprochen auf die lange Bank zu schieben. In der Regel machen wir dies nicht, aber – wenn wir ganz ehrlich sind – doch immer mal wieder. Aber Ungelöstes oder Unangenehmes verschwindet nicht einfach, nur weil wir uns bewusst oder unbewusst entschieden haben, dies zu ignorieren. Denn gerade solche Dinge entfalten ein Eigenleben – Geistern gleich – und es fängt an, im Unternehmen zu «spuken». Es passieren Dinge, die keiner will und niemand wirklich erklären kann. Und sie passieren, weil man sich im Unternehmen irgendwann einmal bewusst oder unbewusst dazu entschlossen hat, die Augen vor etwas zu verschlies­sen. Das Rezept gegen diesen «Spuk» liefert Retos Methode: Zeit nehmen für Transparenz und den Dialog. Sicherstellen, dass auch Unangenehmes auf den Tisch kommt und verhandelt wird. Fehler, Schwächen und dunkle Flecken zulassen, weil dies die Möglichkeit enthält, zu lernen und besser zu werden. Dann bekommt man das geisterhafte Eigenleben, das in Organisationen zuweilen unkontrolliert entsteht, wieder unter Kontrolle. Dies kann durchaus ein anstrengender und schmerzhafter Weg sein, aber stets lohnend. Denn mit Transparenz, Dialog, Austausch sowie dem Mut, Schmerzhaftes und Schwieriges zu verhandeln, wird man die unwissentlich gerufenen «Geister» wieder los; oder es fängt eben gar nicht erst an zu «spuken». Und übrigens: Ich glaube nicht an Geister. Dass es in manchen Unternehmen aber «spukt» und «geistert», das sehe ich seit meinem Gespräch mit Reto tatsächlich immer wieder.

«Spukt» es auch in Ihrem Unternehmen? Das würde mich interessieren; schreiben Sie mir doch: ingo.stolz@hslu.ch.

Prof. Dr. Ingo Stolz ist Dozent für Personal- und Organisationsentwicklung, International Management und Change Management an der Hochschule Luzern – Wirtschaft. Darüber hinaus leitete er dort den CAS International Leadership sowie stellvertretend den Executive MBA Luzern. Ausserdem ist Ingo Stolz beratend für KMU wie Grossunternehmen tätig.

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