Forschung & Entwicklung

Risikokultur und Notfallkonzepte

Es besteht noch Handlungsbedarf in KMU

In Sachen Risikokultur und medizinische Notfallkonzepte haben KMU noch viel Potenzial. Das untermauert eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), die genau diese beiden Kriterien untersuchte.
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In Sachen Risikokultur und Notfallmanagement haben KMU noch Verbesserungsbedarf. Zu diesem Ergebnis kommt die FHNW-Studie «Risikokulturen in KMU und Gemeinden der Schweiz». Das Gute vorweg: Im Informations- und Wissensstand schneiden KMU deutlich besser ab als Gemeinden. Immerhin ist eine gewisse Sensibilisierung für ein Risikomanagement und damit für das Vorhandensein einer Risikokultur vorhanden.

Mangelnde Weiterbildung

Das Risikomanagement ist weitestgehend Gegenstand der unternehmerischen Planung. In Mission-Statements, Leitbildern oder in der Unternehmensstrategie sind Risikoszenarien oder entsprechende Refle­xionen erwähnt oder vorhanden. Beim operativen Risikomanagement in KMU existieren mehrheitlich Prozessbeschreibungen, insbesondere bei einem medizinischen Notfall und bei der internen Kommunikation von Notfallnummern. In fast allen KMU sind Notfallbeauftragte definiert.

Aber dann sinken die Werte schon wieder, wenn es um eine regelmässige Schulung dieser Notfallbeauftragten geht. Dies zeigt sich noch deutlicher bei der Überprüfungsfrage zur Weiterbildung der Notfallbeauftragten. Diese mangelnde Weiterbildung ist auch bei der Schulung auf Defibrillatoren feststellbar. Tatsache ist: Tolle Leitbilder und Konzepte sind das eine, deren Umsetzung ist etwas ganz anderes.

Schnelles Handeln zählt

Für die Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz haben die Autoren 90 Gemeinden und 90 KMU befragt. Davon haben 50 Prozent geantwortet, 60 KMU und 31 Gemeinden. Die eher ernüchternden Erkenntnisse aus der Studie geben auch dann zu denken, wenn die regelmässigen teils schweren Unfälle und Herz-Kreislaufstillstände beziffert werden. Jedes Jahr geschehen in der Schweiz rund 8000 schwere und schwerste Arbeitsunfälle, die mehrere Millionen Ausfalltage und Versicherungsleistungen von rund 1 Milliarde Schweizer Franken verursachen. Fast an jedem Arbeitstag gibt es ein Todesopfer. Das sagt die Unfallstatistik UVG. Und: Jedes Jahr erleiden rund 30 000 Menschen in der Schweiz einen Herzinfarkt, fast 8000 Betroffene sterben an den Folgen.

Bei einem Unfall und ganz besonders bei einem Herzinfarkt entscheiden die ersten drei bis vier Minuten. Wird den Betroffenen dann nicht geholfen, können irreversible Schäden auftreten. Nach durchschnittlich acht bis neun Minuten tritt der Tod ein. Bis professionelle Rettungskräfte eintreffen, vergehen in der Regel aber zehn bis fünfzehn Minuten. In dieser Zeit müssen also die Ersthelfer vor Ort möglichst viel Unterstützung bieten können.  Zum Beispiel durch den Einsatz eines nahen und von jedermann zugänglichen Defibrillators. Wird in den ersten Minuten nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand ein Defibrillator angewendet, beträgt die Überlebensrate eines Kammerflimmer-Patienten 90 Prozent – ohne Defibrillator-Einsatz sind es weniger als fünf Prozent. Aktuell werden aber nur rund drei Prozent der Betroffenen innerhalb der kritischen ersten vier Minuten so behandelt.

Sicherheitskonzepte notwendig

Unsere heutige Gesellschaft ist von drei Faktoren geprägt, die früher weniger relevant waren. Erstens: Der Anteil älterer Personen an der Schweizer Bevölkerung nimmt stetig zu. Und ältere Menschen haben andere Bedürfnisse. Auch nimmt das Risiko an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Multimorbiditäten zu, weil der Anteil der chronischen Erkrankungen steigt. Zweitens hat auch das Risiko- und Gesundheitsbewusstsein zugenommen.

Die Menschen erwarten von ihrem Arbeitgeber, dass man auf dem neusten Stand der Möglichkeiten ist. Warum führen wir im Büroalltag und zu Hause kontinuierlich neue Technologien ein, im Bereich der Notfallversorgung aber nicht? Das wäre unlogisch. Drittens sind die heutigen Technologien sehr benutzerfreundlich. Die Anwendungen und An­leitungen sind selbsterklärend und leicht verständlich. Dadurch ist die Hemmschwelle geringer, beispielsweise Defibrillatoren zu bedienen oder neue Diabetes-Messgeräte einzusetzen.

Auflagen schaffen Grundlagen

Einheitliche Vorschriften zum Risiko- und Notfallmanagement gibt es aktuell nicht. Das hängt vom Grad der allgemeinen gesellschaftlichen Sensibilisierung zum Thema ab. Historisch gewachsen sind jedoch Fragen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes. Hier gibt es gesetzliche Grundlagen, deren Durchführung kontrollierbar und einklagbar ist. Wenn wir von neuen Vorschriften reden möchten, dann wäre vor allem ein gewisses Standardsetting notwendig – also zum einen Standards zur Qualität der Hardware, aber auch Standards von Ausbildungskursen. Das sollte man jedoch der Industrie überlassen.

Der Staat, also in erster Linie die Kantone, sollte nur dann intervenieren, wenn es die Industrie nicht schafft, sich auf Standards zu einigen. Dies scheint aber in einem so gut überschaubaren Markt wie diesem möglich. Zudem sind wir in einem Zeitalter der Hypertechnologisierung. Das bedeutet, dass die neuen Informationstechnologien überall bis in die gesellschaftlichen Kapillaren spürbar und anwendbar sind.

Seit einer Weile kann der Staat nur noch zuschauen, was auf dem Markt passiert. Jegliche gesetzliche Intervention ist heutzutage immer schon veraltet, wenn sie beschlossen und implementiert wird. Daher sollte eher auf die Industrie und die Einsicht der Zielgruppen gesetzt werden.

Dass es rund um die Themen Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz gesetzliche Grundlagen gibt, ist aber wohl auch ein nicht unwesentlicher Grund dafür, dass KMU in der Studie der FHNW besser abschneiden als Gemeinden. Auch hat ein KMU mit 80 bis 150 Mitarbeitenden mehr Personal als eine Gemeinde mit 10 bis 20 Mitarbeitenden. Also ist es eher möglich, eine oder mehrere Personen mit entsprechenden Aufgaben zu betrauen. Das zeigt sich auch darin, dass die Studie einen Zusammenhang der Grösse eines Unternehmens und der Etablierung der Risiko- und Notfallkultur aufzeigen konnte: je grösser ein Unternehmen, desto besser ist diese Kultur. Das ist ein gewichtiger Faktor.

Es geht nun darum, auch kleinere Unternehmen, Organisationen und Institutionen auf einen besseren Informationsstand zu bringen, damit sie eine Notfallkultur entwickeln können. Das muss gar nicht viel kosten, denn Geräte wie Defibrillatoren sind heute viel günstiger als früher, Elektronik wird billiger und ausgefeilter. Es gilt also, zwei Dinge zu tun: diese Geräte an zentralen Orten aufstellen und die Mitarbeitenden schulen, wie sie solche Geräte bedienen können.

Sensibilisierung verstärken

Aus der Studie geht zwar nicht im Detail hervor, wie gut Unternehmensleitbilder, die eine Notfallkultur beschreiben, überhaupt umgesetzt werden. Hoffnung macht aber die Erkenntnis, dass es unter den KMU ein Bewusstsein für die Problematik gibt. Das ist in einem Unternehmen ganz wichtig, weil die Thematik dann auch von der Geschäftsleitung getragen wird. Denn ein Unternehmensleitbild ist wie eine Verfassung, die Belegschaft kann den Patron darauf behaften. Letztlich hängt alles von der Sensibilisierung und den Wünschen der Bevölkerung und natürlich der Mitarbeitenden und Arbeitgeber ab.

Sobald der Druck in dieser Thematik steigt, wird dies eine entsprechende Dynamik auslösen. Es ist auch eine Aufgabe der Verbände, entsprechende Sensibilisierungsmassnahmen und Schulungen zu lancieren. Im Gegensatz zur sonstigen Präventionspolitik ist hier der politische Diskurs nicht belastet.

Bei Ernährungs- oder Tabakpräventionsprogrammen gibt es in der Schweiz seit Jahren starke Vorbehalte von grossen Verbänden. Man will die Bevölkerung nicht gegängelt wissen. In der Thematik Risiko- und Notfallkultur in KMU liegt der Fall anders. Wer kann etwas gegen eine schnelle Hilfe in einem akuten Notfall haben? Davon profitieren schliesslich alle, egal ob es um einen Mitarbeitenden oder sogar um den Geschäftsführer selbst geht.

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