Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Es beginnt ein neues Zeitalter

Die Veränderungen durch künstliche Intelligenz werden schnell und radikal sein. Was kommt auf Unternehmen zu, und was bedeutet dies für die Unternehmensführung?
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Wir treten durch mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestatteten Technologien in ein neues Zeitalter ein. Dies ist nicht allzu überraschend. Denn Zukunftsforscher haben schon seit Längerem prognostiziert, dass die Entwicklung von der Digitalisierung hin zur Datenökonomie hin zur interdependenten Konnektivität von Systemen und dann hin zur Herausbildung von KI gehen wird. Nun ist sie also hier: Mit KI ausgestattete selbstlernende Technologie! Im Moment wird in den Wirtschafts- und Feuilleton-Teilen von Zeitungen und Online-Portalen noch die Diskussion geführt, ob diese Veränderung wirklich so radikal ist; oder nicht doch eher «das Alte» in neuen Kleidern. Ich positioniere mich aus einer akade­mischen Perspektive klar: Ja, die Veränderungen sind radikal neuartig, und sie werden nun schnell kommen. Im Folgenden gehe ich auf Argumente ein, warum ich diese Entwicklung als so radikal einschätze. Aber ich werde auch Argumente liefern, warum wir dennoch nicht zu ­grosse Sorge haben müssen, wenn wir unsere Hausaufgaben machen und die Entwicklungen richtig gestalten.

Unkontrollierte Entwicklung?

Bereits heute haben wir mehr oder weniger schleichend begonnen, mit KI zu interagieren: Die Nutzung von virtuellen Assistenten (zum Beispiel Siri, Alexa) und Chatbots (zum Beispiel Chat GPT, Bing); personalisiertes Marketing, so dass jeder Nutzer genau das vorgeschlagen erhält, was er benötigt oder bevorzugt (zum ­Beispiel Amazon, Netflix, ­Spotify); automatisierte Sprachübersetzungen (zum Beispiel Deepl, Google Translate); automatisierte Analysen, zum Beispiel ob Kreditkartentransaktionen auffällig sind, zur Verhinderung von Missbrauch; vorausschauendes Supply-Chain-Management; automatisierte Bild- und Datenerkennung, zum Beispiel im Gesundheits­bereich zur Auffindung von Anomalien und Krankheiten; datenbasierte Effizienzsteigerung von Produktionsprozessen, etc. Diese Nutzungsentwicklungen werden sich beschleunigen. Schon in sehr naher Zukunft wird KI in Unternehmenskontexten unterstützen – oder gar ei­genständig Aufgaben übernehmen: Das Treffen auch komplexer und strategischer Entscheide; kreative Produktentwicklung mit beschleunigten Zyklen von Design, Pilotierung und Evaluation; Betreuung und Führen von Mitarbeitenden, zum Beispiel durch personalisiertes Feedback und Coaching; das Entwickeln und Mo­nitoren von personalisierten Lern- und Entwicklungspfaden von Mitarbeitenden; das Monitoren von Gefühlen und Moti­vationen von Mitarbeitenden, etc.

Es wird deutlich, dass KI sich wegbewegt von einer rein technologischen Unter­stützungsfunktion zu einer geradezu «menschlichen» Entscheid- und Gestaltungsfunktion. In dieser Annäherung zwischen Menschen und Technologie, zwischen Menschlichem und Maschinellem, ja sogar zum Teil im Ersetzen des Menschen durch die intelligente Maschine, steckt die Radikalität der Veränderung (sowohl aus praktischer wie aus übergeordneter philosophischer Perspektive). Nicht zuletzt deshalb warnen sogar diejenigen, die diese KI entwickeln, vor der Macht und Radikalität dieser Technologie. So hat beispielsweise Sam Altman – der CEO von Open AI, das Unternehmen, das Chat GPT entwickelt hat – am 15. Mai 2023 anlässlich einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress vor möglichen kritischen Szenarien gewarnt und um Regulierung künstlicher Intelligenz gebeten («I think if this technology goes wrong, it can go quite wrong»). Denn wenn die Technologie ein eigenes Bewusstsein entwickelt, (und von dieser Möglichkeit gehen Wissenschaftler bei Microsoft explizit aus, gemäss ihres im März 2023 publizierten Reports «Sparks of Artificial General Intelligence») dann könnte sich die Technologie ausserhalb der Einflussnahme durch den Menschen unkontrolliert weiterentwickeln.

Die Radikalität der Veränderung

Worin besteht nun aber die Radikalität der Veränderung konkret aus Perspektive der Unternehmensführung? Auch bezüglich dieser Perspektive ergibt sich die Radikalität in einem ersten Schritt ebenfalls aus der oben erwähnten Annäherung von Maschinen und dem Menschlichen. Denn dadurch entstehen neuartige Denk- und Handlungsmuster, die sich im Kontext ­einer Unternehmung entfalten werden. Und diese Denk- und Handlungsmuster müssen wiederum bewusst gestaltet werden. Zugespitzt ausgedrückt: Es wird in Zukunft im Rahmen der Unternehmensführung nicht nur nötig sein, Menschen, Projekte, Strukturen, Systeme, Strategien und Kulturen zu führen und zu gestalten. Es wird ebenfalls nötig sein, Technologie zu «führen». Denn als Folge der Nutzung von mit KI unterstützter Technologie wird die KI einerseits neue Aufgaben und Rollen übernehmen, die im Moment Menschen wahrnehmen (Beispiele hierfür wurden oben bereits benannt). Andererseits werden sich auch alltäglichste Mensch-zu-Mensch-Interaktionen verändern, die auf den ersten Blick «technologiefrei» sind (etwa ein Schwatz vor der Kaffeemaschine). Denn auch in diesen Situa­tionen werden wir die KI – zum Beispiel in Form eines Apps auf unserem Natel – ­immer dabeihaben und letztlich auch nutzen, das heisst die KI wird direkt Einfluss nehmen auf die Mensch-zu-Mensch-Interaktion (wir alle kennen schon den Anblick von Gruppen, die sowohl miteinander reden wie gleichzeitig ihr Natel bedienen). 

Neue Rollen und ­Tätigkeitsprofile entstehen

Mit einer Makroperspektive auf die Unternehmensführung folgen hieraus unmittelbare Veränderungen auf struktureller und personeller Ebene. Denn die Nutzung von KI wird einerseits im bestehenden Organigramm zu Rollenergänzungen führen. Andererseits werden neue Rollen und Tätigkeitsprofile entstehen. Diese Balance zwischen Ergänzung und Neuschaffung von Rollen und Tätigkeitsprofilen wird in verschiedenen Unternehmen verschiedenartig aussehen. Aber in allen Unternehmen sind beziehungsweise werden folgende Rollen wichtig, entweder die bisherigen Rollen ergänzend oder eben neu zu erschaffen: Die Rolle eines Data Engineers, der die Modellierung und Analyse von Daten versteht; ein KI-Engineer, der sich über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden hält und Möglichkeiten identifiziert, KI in neuen Bereichen einzusetzen (sowohl intern wie extern in Form neuer Geschäftsmodelle); ein Ethikbeauftragter für KI, zum Beispiel dass als Folge der Nutzung von KI keine Vorurteile verstärkt werden; ein KI-Projektmanager, der die Entwicklung, Planung, Ressourcenallokation, Implementierung und Überwachung von KI-Projekten koordiniert; ein KI-Change-Manager, um Anpassungen an neue Arbeitsabläufe und eventuell damit einhergehende Veränderungen in der Unternehmenskultur zu begleiten; oder ein Rechtsexperte für KI, um Anforderungen des Datenschutzes und des geistigen Eigentums Folge zu leisten. 

Technologie- und ­Datenkompetenz notwendig

Aus diesen Rollenergänzungen beziehungsweise Rollenneuschaffungen er­geben sich aus einer Mikroperspektive wiederum Veränderungen in der Zusammenarbeit zwischen den Rollen. Zusammenarbeitsformen werden noch interdisziplinärer und vernetzter werden, weil tendenziell in jedem Arbeitsstrom die oben erwähnten Rollen und Expertisen nötig sind beziehungsweise je nach Bedarf hinzugezogen werden müssen. Diese Entwicklung zur grösseren Interdisziplinarität und Vernetztheit ist für die Unternehmensführung einerseits nicht wirklich neu, denn wir sprechen schon seit Längerem über agile Teams, Scrum, Dynamic Systems ­Development, etc. Zu diesen modernen Arbeitsmethoden hinzu kommt aber nun eben der Sachverhalt, dass diese Methoden nun nicht mehr nur techno­logisch ­unterstützt werden, sondern die KI als «menschgewordene» Technologie selbstständig Rollen wahrnimmt und direkt eingreift. Aus dieser Mikroperspektive der Unternehmensführung umfasst das «Führen» von Technologie damit eine grundlegende Technologie- und Datenkompetenz (das heisst ein grundlegendes Verständnis für die zugrunde liegenden Algorithmen, Daten und Modelle); die strategische Fähigkeit, bewusst zu entscheiden, wann und wo KI eingesetzt ­werden soll und wann und wo ausdrücklich nicht; die Fähigkeit, KI-Experten (siehe oben) zu leiten und motivieren; die Fähigkeit, komplexe technologische Informationen an nicht-technisch-affine Stakeholder zu vermitteln; und die Bereitschaft trotz der vermeint­lichen «Neutralität» der KI Fragen von Fairness, Transparenz, Datenschutz und Sicherheit zu thematisieren, das heisst sich dem übergeordneten auch philosophischen Diskurs über KI auch im Kontext der eigenen Unternehmung nicht zu verschliessen.

Porträt