Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Der Mensch und die Maschine

Die zunehmende Interaktion zwischen Mensch und KI führt zu einschneidenden Veränderungen der zukünftigen Berufswelt. Das hat auch Auswirkungen auf die Kompetenzprofile von Führungskräften.
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«ChatGPT» hat uns vollends wachgerüttelt. Dies zeigen die zahlreiche Zeitungsartikel und Diskussionen der letzten Tage und Wochen. Wir sind wachgerüttelt worden, weil es einer breiteren Öffentlichkeit plötzlich bewusst wird – am Beispiel von «ChatGPT» –, wie weit die künstliche Intelligenz (KI) tatsächlich schon entwickelt ist. Haben auch Sie in den letzten Tagen und Wochen eine Frage an die KI von «ChatGPT» gestellt? Und waren auch Sie verblüfft, mit welcher Qualität diese KI Antworten zur Verfügung stellt, auch in kreativen und emotionalen Bereichen, die wir als fundamental menschlich erachten, wie die Poesie oder die Psychologie? Wenn ja, dann ist es Ihnen sicherlich auch so ergangen, dass Sie sich die geradezu philosophische Frage gestellt haben, was angesichts einer rein künstlichen Intelligenz wie «ChatGPT» menschliches Lernen und Wissen noch von einem maschinellen Lernen und Wissen abhebt. Und diese Frage ist wirklich eine entscheidende! Denn die Antworten auf diese philosophische Frage werden bestimmen, wie wir in Zukunft mit künstlicher Intelligenz umgehen und wie wir als Folge unsere Leben gestalten werden. 

Einschneidende Veränderungen 

Aus meiner Perspektive war ich nicht zu sehr über «ChatGPT» überrascht. Denn als grösster schweizerischer Anbieter von Weiterbildungen im Fachbereich Wirtschaft beschäftigen wir uns an der Hochschule Luzern stets intensiv mit der Frage, wie die Berufswelten in Zukunft aussehen werden. Denn nur wenn wir die Berufswelten der Zukunft verstehen, können wir unseren Weiterbildungsbildungsteilnehmenden diejenigen Kompetenzen vermitteln, die es in Zukunft auch wirklich braucht. Deshalb sind Zukunftsprognosen für uns als «Ressort Weiter­bildung» – in dem ich ebenfalls einsitze und mitdenke – zentraler Bestandteil ­unserer Arbeit. Und Zukunftsforscher ­sagen schon seit längerem voraus, dass sich die technologische Entwicklung der Digitalisierung konsequent weiterent­wickelt, hin zur Möglichkeit, auf Basis unvorstellbar grosser Datenmengen und Computerleistung menschliches Lernen und Handeln maschinell zu simulieren. Und «ChatGPT» ist nun genau ein solches Beispiel.

Und die prognostizierten Veränderungen in der Berufswelt der Zukunft – als Folge von Digitalisierung und KI – sind tatsächlich einschneidend. Die Veränderungen sind derart gross, dass davon auszugehen ist, dass es die Mehrheit der Jobs, die es in zehn Jahren brauchen wird, heute so noch gar nicht gibt! Das bedeutet einerseits, dass es wirklich ganz neue Berufsgruppen geben wird. Wollen Sie in Zukunft beispielsweise ein «Systems Tan­gilizer» sein, also jemand, der auch komplexeste Technologiesysteme versteht und diesbezüglich die Gesamtsicht bewahrt? Oder wollen Sie als «Robot Counselor» Menschen helfen, besser mit ihren Robotern (zum Beispiel ein Heimroboter als Diener) umzugehen?  Sehen Sie sich als «Wearable-Technology-Therapeut», der auf die Auswirkungen von Wearable-Technologien auf den menschlichen Körper spezialisiert ist und darauf achtet, wie man diese Wirkungen nutzt beziehungsweise kompensiert? «Simplicity Expert», der technologische Komplexität so vereinfacht, dass Menschen damit arbeiten können? «Mensch-KI-Me­diator», sodass etwaige Streitigkeiten zwischen Menschen und ihrer KI bei­gelegt werden können? Oder doch eher «Voice UX Designer», der darauf bedacht ist, dass jeder Mensch mit derjenigen Stimme (Sprache, Dialekt, Stimmmodulation, et cetera) einer KI interagieren kann, die er möchte? 

Die Mensch-Maschine-Interaktion

Diese Beispiele sind in Zukunft tatsächlich denkbar; beziehungsweise teilweise existieren sie auch schon heute. Ganz neue Berufsgruppen und Aufgabenfelder werden sich also herausbilden. Dennoch sind die oben genannten Beispiele durchaus extrem. Denn die gemachte Aussage, dass es die Mehrheit der Jobs, die es in zehn Jahren brauchen wird, heute so noch gar nicht gibt, bedeutet nicht, dass die Mehrheit der heute Angestellten ihre Jobs verlieren werden oder wir uns alle auf neue Jobs bewerben müssen. Vielmehr bedeutet die Aussage, dass sich die heutigen Jobprofile stark verändern werden, insbesondere an der Schnittstelle von Menschen zur KI, an der sogenannten Mensch-Maschine-Interaktion. Von dieser Veränderung werden fast alle von uns betroffen sein, auch wenn wir in zehn Jahren formal immer noch dort arbeiten, wo wir heute arbeiten. Denn gemäss Studien ist davon auszugehen, dass wir im Rahmen unserer jetzigen Jobs ungefähr die Hälfte unserer heutigen Tätigkeiten und Routinen als Folge von Digitalisierung und KI andersartig ausführen werden. Und dies bedeutet wiederum, dass sich unser nötiges Kompetenzprofil – um diese Tätigkeiten dann ausüben zu können – ebenfalls um knapp 50 Prozent verändern wird.

Diese Kompetenzprofilveränderung wird verschiedene Berufsfelder verschiedenartig verändern. Übergeordnet kann aber festgestellt werden, dass manuelle und geistige Präzisionsarbeit, sprachliches und mathematisches Arbeiten, koordinative und qualitative Arbeiten sowie insgesamt betriebswirtschaftliche Grundkompetenzen (zum Beispiel Finance, HR, Projektmanagement) weniger gefragte Kompetenzen sein werden, weil diese eben von einer KI übernommen werden können. Gefragter werden einerseits Kompetenzen, die breit und übergreifend sind. Gemeint sind hierbei Führungskompetenzen, um menschliche Kreativität und Originalität und KI-Prozesse in Einklang zu bringen; analytische Kompetenzen, um trotz technologischer Komplexität die Struktur und das eigentliche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren; und kritische und emotionale In­telligenz, damit der Mensch nicht selbst zur Maschine wird. Andererseits werden Kompetenzen gefragt, die sehr tief und spezialisiert sind. Die oben genannten Berufsbeispiele spiegeln solche tiefen und sehr spezialisierten Kompetenzen wider, mit Lösungskompetenzen an einer ganz spezifischen Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine (zum Beispiel arbeitet eben ein «Wearable-Technology-Therapeut» an einer solchen ganz spezifischen Mensch-Maschine-Interaktion).

Die zentralen Zukunftskompetenzen

Diese Beobachtungen führen auf übergeordneter Stufe zu folgenden Kompetenzen, die wir in Zukunft als zentral erachten; die wir zum Beispiel als «Ressort Weiterbildung» auch in unseren Weiterbildungsprogrammen als übergeordnet entwicklungswürdig erachten (ein spezieller Dank an unsere Senior Wissenschaftliche Mitarbeiterin Karina von dem Berge für die diesbezüglichen Recher­chearbeiten): Kreativität; Mut, Neues auszuprobieren; flache Führung, unabhängig von Hierarchie; komplexitätsreduzierende und kritisch hinterfragende analytische Kompetenzen; die Kompetenz zur Erkennung übergeordneter Probleme – auch durch Perspektivenwechsel – und deren Lösung; Anpassungsfähigkeit und der flexible Umgang mit Unsicherheit; vernetztes Denken, auch über Grenzen von Disziplinen und Kulturen.

Mit diesen Kompetenzveränderungen sollten wir auch unbedingt die Art und Weise, wie wir diese Kompetenzen erlernen, verändern. Für uns in der Weiterbildung der Hochschule Luzern – Wirtschaft heisst dies: Keine Vermittlung mehr von absolutem Wissen im Vorlesungsstil, sondern vernetztes und analytischen Lernen durch das gemeinsame und vernetzte Auflösen alltags- und praxisrelevanter Herausforderungen; Lernen in einem sozialen Umfeld, um durch Einbringung verschiedener Perspektiven Übersicht herzustellen; Herstellung einer geeigneten Balance zwischen technologischen Hilfsmitteln und der Nutzung originär menschlicher Qualitäten; die individuelle Begleitung von Personen – neben der Arbeit in Teams –, sodass jeder seinen Weg finden kann, wie er am besten lernt (das heisst die Entwicklung der Metakompetenz, «das Lernen zu lernen»). 

Wir alle müssen uns Gedanken machen, wie wir uns auf unsere Zukunft mit Maschinen vorbereiten möchten. Ich habe oben immer wieder darauf Bezug genommen, wie wir als Hochschul-Weiterbildungsanbieter diesbezüglich unseren Beitrag leisten wollen. Die diesbezüglich oben genannten Analyse- und Denkprozesse sind aber nicht nur für uns als Hochschule relevant, sondern auch für alle ­Organisationen und Personen. Und je ­früher wir uns dem stellen, umso mehr können wir die Veränderungen evolutionär und letztlich menschlich ­gestalten.

Porträt