Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Das Internationale wird virtuell

Die Frage stellt sich durch Corona dringlicher denn je: Wie können internationalisierende KMU eine virtuelle «Nähe» über geografische Distanzen hinweg herstellen?
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Der Erfolg des schweizerischen Wirtschaftsstandortes ist vom Erfolg der schweizerischen KMU abhängig. Und der Erfolg der schweizerischen KMU ist stark von ihrem Erfolg auf internationalen Märkten abhängig – schweizerische KMU sind aufgrund des kleinen Heimatmarktes vergleichsweise stark internationalisiert. Zur erfolgreichen Bewirtschaftung internationaler Märkte ist die Entwicklung eines guten Gespürs notwendig, das heisst, neben Fakten-, Branchen- und Marktkenntnissen braucht es die Entwicklung eines guten «Bauchgefühls» (mehr darüber in den Beiträgen meines Forschungs-Teams in den Ausgaben 4 und 6/7 2018 sowie 3 und 4/5 2019 dieses Magazins). Dazu ist eine Nähe zum Zielmarkt und den darin agierenden Menschen unerlässlich. Diesbezüglich rückt nun die Frage in den Vordergrund, wie dieses Gespür und Bauchgefühl auch über geografische Distanz hergestellt werden kann. Oder genauer: Wie kann eine «Nähe» über internationale Distanz hinweg auch via die Nutzung virtueller Kommunikationswerkzeuge hergestellt werden? Diese Frage stellt sich nun brisant als Folge der Reisebeschränkungen der Corona-Zeit. Diese Frage wird sich aber vermehrt auch nach Corona stellen, im Rahmen von Diskussionen über mögliche Effizienzsteigerungen, Kosten- und CO2-Reduktionen. Wie führen wir also Menschen, Projekte und eine jeweilige Marktpräsenz verstärkt virtuell über internationale Grenzen hinweg und stellen dennoch die notwendige Nähe her?

Virtuelles Führen noch nicht der Situation angepasst
Schon vor Corona stellte sich als Folge der überlappenden Mega-Trends «Globalisierung», «Digitalisierung» und «Nachhaltigkeit» die Frage, welche Formen des virtuellen Führens auf welche Art und Weise in der Berufspraxis gelebt werden können. Dies deshalb – so eine Studie von RW3 aus dem Jahr 2018, also bereits vor Corona –, weil 89 Prozent der befragten Berufstätigen mindestens einem virtuellen Team angehören, wobei in 69 Prozent der Fälle Personen aus mindestens drei Kulturkreisen Teil des virtuellen Teams sind, und sich in 48 Prozent der Fälle die Team-Mitglieder ausschliesslich virtuell und niemals direkt sehen. Wir erleben also bereits sehr intensiv und konkret das virtuelle Überschreiten internationaler Grenzen im Rahmen unserer jeweiligen Arbeitskontexte. 

Angesichts dieser scheinbaren Alltäglichkeit des virtuellen Führens über internationale Grenzen hinweg ist es erstaunlich, dass sich die Forschung und Praxis zumeist wenig damit beschäftigt, wie genau wir dies tun sollen und können. Vielmehr ist zu beobachten, (a) dass die technischen Möglichkeiten virtueller Kommunikation für die internationale Führung nicht ausgeschöpft werden (es bleibt zumeist bei Telefon, Skype oder höchstens der Einrichtung einer Zoom- oder Teams-Video-Konferenz); (b) dass Arbeitsstrukturen und -prozesse nicht angepasst werden, obwohl neue virtuelle Techniken zum Einsatz kommen; (c) dass diese virtuellen Kommunikationstechniken im internationalen Kontext unangepasst genauso genutzt werden, wie wir dies in der Schweiz mit einem jeweiligen Gegenüber praktizieren würden, obwohl wir wissen, dass das Wirtschaften in anderen Ländern zum Teil andersartig funktioniert und andere Interaktionsformen gepflegt werden. Gutes virtuelles Führen über internationale Distanz gelingt aber nur dann, wenn wir wissen, (a) welche virtuellen Kommunikationswerkzeuge wie in unsere internationalen Arbeitsprozesse und -strukturen eingebettet werden sollen, und (b) welche Spielregeln für unser jeweiliges internationales Gegenüber anlässlich der Nutzung dieser Werkzeuge gelten.

Prinzip des «Digital Entrepreneurship» ist förderlich
Welche konkreten virtuellen Führungs- und Kommunikationswerkzeuge sich im digital-global vernetzten Arbeitsraum dauerhaft etablieren werden, wird erst die Zukunft weisen, inklusive der Tauglichkeit von Artificial-Intelligence-Sys­temen wie Avatars, Chatbots, Work-­Tracking-Systemen und Dashboards. Je­-doch zeigen erste Forschungsergebnisse, dass der Einsatz virtueller Kommunika­tionswerkzeuge zur Führung von Menschen, Projekten und Marktpräsenzen einhergeht mit einer Anpassung von Arbeitsprozessen und -strukturen. Ein direktiver Führungs- und Managementstil und eine versuchte direkte Kontrollausübung sind in der Regel ungeeignet. Vielmehr ist aufgrund der geografischen Distanz die Befähigung des Ge­genübers notwendig, selbstgesteuert den eigenen Gestaltungsraum vor Ort zu definieren und darin selbstverantwortlich zu agieren – im Rahmen der jeweiligen übergeordneten strategischen Zielsetzungen. Virtuelle Führung ist also nur dann möglich, wenn man sich darauf verlassen kann, dass das jeweilige Gegenüber selbstgesteuert und verantwortlich handelt, gerade wenn die direkte Kontrolle als Folge der grösseren geografischen Distanz zumindest zum Teil wegfällt. Der Einsatz virtueller Kommunikationswerkzeuge muss also einhergehen mit einem grundsätzlich agileren Grundverständnis bezüglich der internationalen Zusammenarbeit. Hierbei erscheint das Prinzip des «Digital Entrepreneurship» förderlich, das heisst flachere Strukturen hin zur Delegation von Entscheidkompe­tenzen zu lokalen Mitarbeitenden und Partnern. So kann die mangelnde geo­grafische Nähe zum Zielmarkt jeweils  vor Ort selbstgesteuert und selbstverantwortlich kompensiert werden. 

Unterschiedliche internationale Spielregeln
Hier stellt sich unmittelbar die Frage, wie im Rahmen virtueller internationaler Arbeitsbeziehungen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann, sodass eine Delegation von Verantwortung und Entscheidkompetenzen gerechtfertigt werden kann. Oder anders formuliert: Wie können auch auf virtuellem Wege Vertrauensverhältnisse aufgebaut werden? Diesbezüglich muss man wissen, wie in unterschiedlichen internationalen Kontexten andersartig mit virtuellen Kommunikationstechnologien umgegangen wird, das heisst, welche Spielregeln diesbezüglich gelten. Mit der Kenntnis die­ser Unterschiedlichkeiten können die Verwendungsformen und -arten gezielter gewählt und angepasst werden. Dies kann wiederum dazu führen, dass auch auf virtuellem Wege vertrauensvolle internationale Geschäftsbeziehungen aufgebaut werden können. 

Gute virtuelle Kommunikation in einem internationalen Kontext beginnt bereits bei der Wahl eines geeigneten Kommunikationswerkzeuges. Ich habe beispielsweise kürzlich gelernt, dass ich viel schneller und effizienter mit meinen thailändischen Partnern virtuell interagieren kann, wenn ich statt E-Mail oder Zoom die Whatsapp-ähnliche lokale App «Line» als Kommunikationskanal verwende. Weiterhin gilt es abzuwägen, welche Informationstiefe ein jeweiliges virtuelles Kommunikationswerkzeug erlaubt. So ist eine E-Mail sehr gut geeignet, Schriftliches zu übermitteln; für Schweizer ist dies in der Regel ausreichend, denn Vertrauen entsteht für uns schon oft dadurch, dass schriftlich Vereinbartes eingehalten wird. Für ein Gegenüber, dem es aber neben dem Schriftlichen auch stärker auf das «Zwischen-den-Zeilen» ankommt, auf die Auslotung eines persönlichen Verhältnisses und der Herstellung eines persönlichen Kontaktes, ist ein E-Mail-Kanal eher limitierend (weil eben auf das Rationale und Schriftliche fo­kussierend). Für ein solches Gegenüber entsteht Vertrauen eventuell stärker als Folge einer regelmässigen persönlichen, visuellen und emotionalen Verbindung via interaktiveren virtuellen Kommunikationsformen. Dies bedeutet, dass interkulturelle Verschiedenheiten gerade auch beim Einsatz virtueller Kommunikationswerkzeuge berücksichtigt werden müssen, um Vertrauen herstellen zu können. 

Als Folge der Tatsache, dass das Inter­nationale virtueller wird, muss das virtuelle Arbeiten also internationaler werden, das heisst, eine Sensibilität für die unterschiedlichen internationalen Spielregeln virtueller Kommunikation ist notwendig, sodass vertrauensvolles, effizientes und effektives internationales Wirtschaften auch über virtuelle «Distanz» möglich wird. 

Porträt