Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Braucht es Neues für Neues?

Die Antworten auf die Herausforderungen des disruptiven Wandels liegen weniger in radikal neuen Methoden oder Modellen des Veränderungsmanagements. Es geht vielmehr darum, Veränderungsprozesse zu beschleunigen.
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Überall schreit es uns entgegen: Noch niemals habe sich so viel und schnell verändert. Wir müssten radikal umdenken, denn sonst verlören wir den Anschluss. Es brauche radikal neue Denk- und Arbeitsweisen. Trends wie Globalisierung, Digitalisierung und Robotik zwängen uns einfach dazu. Als Folge werden unter der Überschrift «disruptiver Wandel» stets neue Lösungen für das Veränderungsmanagement in Organisationen propagiert. Wenn ich aber diese Lösungen betrachte, wie durch Veränderungsmanagement in Organisationen auf externen Wandel konkret reagiert werden soll, dann kann ich oftmals keine radikal neuen Ansätze erkennen. Vielmehr sind diese Lösungen zumeist Neuformulierungen und Zuspitzungen von bereits Bekanntem. 

Bekannte Methoden und neue Rezepte

Auch wenn es Indizien gibt für zum Teil sehr starke externe Veränderungstrends, so begegne ich dem Argument dennoch mit Skepsis, dass es als Folge dieser Trends völlig neue Methoden und Modelle des internen Veränderungs-managements brauche. Einerseits erkenne ich in meiner eigenen Familiengeschichte – ich stamme aus einem Handwerksbetrieb in Südbaden – die Notwendigkeit der Reaktion auf Disruptionen bereits in der Vergangenheit. So musste mein Grossvater das Familienunternehmen durch die Jahre des Zweiten Weltkrieges führen – unter den Vorzeichen einer totalen Disruption von Märkten, Ressourcen und Werten. Später hat mein Vater dann – als Folge neuer Kundenbedürfnisse nach den Wirtschaftswunderjahren – das Familienunternehmen geradezu neu erfunden. Sowohl Disruption wie die Herbeiführung entsprechender organisationaler Veränderung scheint also auch in der Vergangenheit stattgefunden zu haben. Andererseits erkenne ich in den heute diskutierten Methoden und Modellen des Veränderungsmanagements zumeist nichts wirklich kategorisch Neuartiges, sondern eher neue Rezepte als Folge der Mischung bekannter Zutaten. Aus diesen Beobachtungen schliesse ich in einem ersten Schritt: Wir können den auf uns zukommenden Veränderungen selbstbewusst begegnen, weil wir mit den erlernten und erprobten Methoden und Modellen des Veränderungsmanagements im Grundsatz auch diesen neuen Herausforderungen begegnen können. Aber ist dies tatsächlich immer so?

Schauen wir uns doch einmal einige Methoden und Modelle an, die unter der Überschrift «disruptiver Wandel» als mögliche Lösungsansätze des Veränderungsmanagements diskutiert werden. Immer wieder zu finden sind hierbei beispielsweise Methoden wie Design Thinking oder Scrum. Design Thinking bietet eine Herangehensweise an komplexe Problemstellungen und führt interaktiv und «hands-on» durch Prozesse des Verstehens, der Ideenfindung und der Verfeinerung von Lösungs- und Umsetzungsalternativen. Scrum führt weitgehend selbstorganisierte Teams durch einen Prozess der Kollaboration, der nicht linear auf ein vordefiniertes Ziel ausgerichtet ist, sondern iterativ Lösungs-varianten entwickelt und testet. Interessant ist nun, dass die grundlegenden Charakteristika dieser beiden Methoden keineswegs neu sind. Wir wissen aus der Literatur schon lange, dass interaktive und interdisziplinäre Kollaboration, die Distribution von Verantwortung, das Reflektieren und Sich-schrittweise-Annähern an komplexe Probleme sowie das Testen von Prototypen vor einer finalen Lösungs­definition die Chance erhöhen, bessere Lösungen auf Veränderungen zu finden.

Die Reduktion hierarchischer Hürden

Ähnliches kann geschlussfolgert werden, wenn wir neben diesen Methoden Organisationsmodelle ansehen, denen besondere Eignung zur Reaktion auf disruptive Veränderung zugesprochen wird, wie beispielsweise der Holokratie oder der Agilität. In einer holokratischen Organisation soll beispielsweise die Befugnis der Entscheidungsfindung vollständig an sich selbst organisierende Teams delegiert werden, die sich weniger strategischen Grundsatzplanungen widmen, sondern der kunden- und konsensorientierten Bearbeitung konkret-praktischer Herausforderungen. Der Agilitätsdiskurs wendet sich ebenfalls ab von vordefinierten prozess- oder projektorientierten Strukturen, hin zu nachfrage­orientierten Teams, die bei Bedarf, ad hoc und zeitlich befristet mit derjenigen Expertise zusammengestellt werden, die es braucht, um eine spezifische Problemstellung zu bearbeiten. So radikal diese Auflösung von traditionellen Organisations-hierarchien auch auf den ersten Blick erscheinen mag, so wenig neu ist der den Organisationsmodellen zugrunde liegende Gedanke bezüglich Veränderungsmanagement. So wissen wir aus der Literatur bereits, dass partizipative Verfahren und die Reduktion hierarchischer Hürden zugunsten unmittelbarer Einbindung von Expertise zur Lösung komplexer Problemstellungen viel besser geeignet sind als direktive, hierarchisch legitimierte und linear vordefinierte Verfahren.

Als Folge dieser Beobachtung komme ich erneut zum Schluss, dass bestehende Methoden und Modelle des Veränderungsmanagements im Kern bereits die richtigen Antworten auch auf disruptive externe Veränderungen liefern können. Daraus folgt weiterhin, dass wir bereits Routinen und Verhaltensweisen kennen und erprobt haben – selbst wenn wir noch nicht die oben erwähnten neuen Methoden und Modelle anwenden – die aus der Perspektive des Veränderungsmanagements im Grundsatz richtig sind zur organisationalen Reaktion auf heutige Veränderungstrends. Dies sollte uns Selbstbewusstsein geben, auch disruptive Veränderungen angehen und meistern zu können, weil wir grundlegende Methoden und Modelle bereits kennen und nutzbringend anwenden. Ein oft vorzufindendes Gefühl der Ohnmacht angesichts einer scheinbar beispiellos grossen Veränderungswelle ist also unangebracht.

Die Notwendigkeit einer neuartigen Herangehensweise

Ist also bezüglich der adäquaten Reaktion auf disruptiven Wandel tatsächlich nichts weiter zu beachten? Doch, es besteht durchaus die Notwendigkeit einer neuartigen Herangehensweise. Das Neue besteht darin, dass wir lernen müssen, die bekannten  Methoden und Modelle schneller anzuwenden. Lösungen auf externen Veränderungsdruck müssen also nicht unbedingt völlig anders, aber durchaus schneller gefunden werden. Und in diesem Sachverhalt besteht das eigentlich Nützliche der zuvor dargestellten Methoden und Modelle. Sie gehen keine radikal neuartigen Wege, bieten aber Strukturen und Prozesse zur schnelleren Beschreitung dieser Wege. Dies geschieht dadurch, dass Lösungsfindungsprozesse von Anfang an unter den richtigen Bedingungen beginnen: in direktem Austausch der nötigen Expertise, in direktem Kontakt mit den Bedürfnissen der zukünftigen Anwender, in kurzen und zyklischen Testphasen und mit der nötigen Kompetenz der an der Lösungsfindung Beteiligten.

Und darin liegt für mich die Quintessenz der Diskussion um Veränderungsmanagement im Zeichen des disruptiven Wandels. Es geht zumeist nicht um radikal neue Methoden oder Modelle des Veränderungsmanagements. Es geht vielmehr darum, Veränderungsprozesse zu beschleunigen. Darin liegt die eigentliche Herausforderung. Denn dieser Beschleunigungsanspruch fordert, dass Veränderungsprozesse unter den richtigen Bedingungen stattfinden können, in flachen und selbstverantwortlich geführten Strukturen und mit den nötigen Kompetenzen für kreatives und kooperatives Zusammenarbeiten. Die Herausforderung liegt also in der Herstellung der geeigneten Bedingungen, nicht im Auffinden radikal neuer Methoden und Modelle.

Prof. Dr. Ingo Stolz ist Dozent für Personal- und Organisationsentwicklung, International Management und Change Management an der Hochschule Luzern – Wirtschaft. Darüber hinaus leitete er dort den CAS International Leadership sowie stellvertretend den Executive MBA Luzern. Ausserdem ist Ingo Stolz beratend für KMU wie Grossunternehmen tätig.

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