Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Asiens neue visionäre Kraft

Während die USA und Europa noch vor allem mit sich selbst beschäftigt sind, arbeitet China intensiv an Zukunftsvisionen und holt mit seinem Billionen-Dollar-Seidenstrassenprojekt zum grossen «Schlag» aus.
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Die Repräsentanten des Weltwirtschaftsforums (WEF) haben sich 2019 mit schlechten Nachrichten und negativen Ausblicken geradezu überboten. Zuvorderst, Sir David Attenborough,  92, Historiker und Blue-Planet-Filmemacher; meinte gar: «The Garden of Eden is no more.» Und in der Tat, der Westen gibt kein gutes Bild ab. Die USA sind zerstritten darüber, ob das Land eine Mauer an der mexikanischen Grenze braucht, und der über diese Streitfrage ausgebrochene «Shutdown» liess die grösste Volkswirtschaft der Erde wie eine Bananenrepublik erscheinen. Europa mit dem zu beobachtenden Brexit-Chaos steht dem allerdings kaum nach. 

Chinas expansive Zukunftspläne

China, so liest man allenthalben, steht, konfrontiert mit Trumps Zollpolitik, durch eine Schuldenblase und aufgrund des staatlichen Dirigismus kurz vor einer systemischen Krise. China sei 2018 «nur» 6,6 Prozent gewachsen, enttäuschend im Vergleich zu den 10 Prozent des Jahres 2010. Steht es wirklich so schlecht um China, machen Investoren um Asien einen Bogen? Schaut man genauer hin, dann relativiert sich die kolportierte Krise Asiens. Vor etwas mehr als zehn Jahren war die chinesische Wirtschaft noch dreimal kleiner als heute. Mit spitzem Bleistift gerechnet sind 6,6 Prozent einer dreifach grösseren Basis ein in absoluten Zahlen ein grösseres Wachstum als 10 Prozent einer dreimal kleineren Basis. Den Vergleich mit den USA braucht China auch nicht zu scheuen: Während Trump die Schornsteine wieder rauchen lassen möchte und die Zukunft bei Kohle, Stahl und fossilen Brennstoffen sieht, machen sich China und weite Teile Asiens daran, eine digitale Vision der Zukunft zu entwickeln. Doch nicht nur das, China hat den Mauerbau vor über 500 Jahren eingestellt und belebt seit 2013 die Vision einer neuen «Seidenstrasse». Dieses auch als «One Belt, One Road» bezeichnete neue Projekt beinhaltet riesige Infrastrukturinvestitionen in insgesamt 72 Ländern zu Lande, Wasser und in der Luft. Nichts Geringeres ist geplant als ein eurasischer Wirtschaftsraum, der vom Gelben Meer bis an den Atlantik reicht, wobei Afrika explizit und umfassend in diese Planungen einbezogen ist. Auf Dauer will China so die halbe Welt miteinander verbinden und wirtschaftlich entwickeln – von Europa nach Afrika und Indien, von Thailand bis in die Mongolei, nach Schanghai und Peking. Die maritimen Investitionen der Chinesen umfassen dabei Tiefseehäfen und Containerterminals, verbinden die Häfen von Schanghai, Hongkong, Singapur via Indien nach Dubai mit dem Suez-Kanal bis zum griechischen Hafen Piräus. Asien plant in langen Zeiträumen. Der eine oder andere mag sich vielleicht erinnern, dass in den dunklen Stunden der schweren Wirtschaftskrise in Griechenland China in den besagten Hafen von Piräus investierte. 

Knapp 1000 Investitionsprojekte rund um die neue Seidenstrasse

Hier soll keineswegs dem chinesischen Wirtschaftsmodell und Staatsdirigismus Pekings das Loblied gesungen werden, ganz im Gegenteil. Peking treibt das Seidenstrassenprojekt nicht aus altruistischen Motiven voran. Chinesische Infrastrukturkredite sind an Bedingungen geknüpft, die für beteiligte Staaten schnell zur Belastung werden können. Sri Lanka etwa war gezwungen, China die Nutzungsrechte des Hafens Hambantota zu überschreiben, weil es einen Sieben-Milliarden-Dollar-Kredit Pekings nicht mehr bedienen konnte. Doch im Kern geht es China darum, seine Nachbarn wirtschaftlich zu entwickeln, um die Produkte und Dienstleistungen aus chinesischen Fabriken international zu vermarkten und so das eigene Wirtschaftswachstum auf hohem Niveau zu halten. Auch in Asien gilt: Vor dem Wirtschaftswachstum kommen die Investitionen. Knapp 1000 Investitionsprojekte planen die Chinesen rund um die neue Seidenstrasse, fast eine Billion Dollar will Peking dafür bereitstellen. Wirtschaftsstudierende des ersten Semesters lernen von J. M. Keynes, dass gerade in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten Visionen gefragt sind, welche Isolation und Stagnation flankiert durch staatliche Investitionen überwinden. Wider jede berechtigte Kritik gegenüber dem One-Belt-Projekt ist anzuerkennen, dass China das Potenzial erkannt hat, das in einer infrastrukturellen Verknüpfung von den nach wie vor sehr armen Staaten zwischen China und Europa unter Einbeziehung Afrikas ausgeht. Prognosen lassen erwarten, dass die Seidenstrasse den Warenverkehr nicht nur vergünstigt, sondern den Güterhandel langfristig um 25 bis 30 Prozent wachsen lässt, bestenfalls Jahr für Jahr um 200 Milliarden Dollar. Es gilt zu hoffen, dass dies eine Chance Afrikas und zugleich Teillösung der Migrationsfrage ist. Für Europa liegen konkrete Schätzungen vor, wie man von einer komplementären Seidenstrassen-Initiative profitieren könnte. Experten gehen von einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 3 bis 3,5 Prozent und einem Beschäftigungszuwachs von mehreren Millionen Stellen aus. Kein Zweifel, das Seidenstras­senprojekt ist zu wichtig, um es zu ignorieren. 

Thailand startet Milliarden-Investments

Interessant ist, zu sehen, wie Thailand, die Wahlheimat des Autors, mit dem Angebot Chinas umgeht. Thailand hat durchaus erkannt, dass die heimische Industrie eine recht starke Abhängigkeit von der Automobilproduktion japanischer Investoren aufweist. Nicht umsonst nennt man Thailand in der Branche auch «Detroit of the East». Damit es Thailand nicht wie Detroit ergeht, hat das Königreich seinerseits ein umfangreiches Investitionsprogramm gestartet. 
Neben klassischen Infrastrukturprojekten treibt die thailändische Regierung mit aller Macht den Anschluss an das Seidenstrassenprojekt Chinas voran. Infrastrukturprojekte mit einem Gesamtvolumen von circa 60 Milliarden US-Dollar sind für die nächsten 15 Jahre geplant. Kern der Investitionen stellt der sogenannte Eastern Economic Corridor (EEC) im Grossraum Pattaya dar. Der Aus- und Neubau von Autobahnen sowie eine Hochgeschwindigkeitsbahn stellen die Anbindung ans nahegelegene Bangkok mit seinen zwei internationalen Flughäfen sicher. Selbstredend werden die Flughäfen erneuert und erweitert. Der Tiefseehafen in der Nähe von Pattaya ist als wesentliches Element der maritimen Seiden­stras­se vorgesehen. Eine weitere, im Bau befindliche Hochgeschwindigkeitstrasse der Bahn verbindet in naher Zukunft Bangkok mit dem Norden Thailands und findet voraussichtlich in Chongqing Anschluss an Chinas Bahninfrastruktur. Von der 30-Millionen-Einwohner-Stadt Chongqing geht es dann nach Osten bis Schanghai oder nach Westen via Moskau nach Duisburg im Ruhrgebiet. Thailands EEC-Projekt stellt im Kontext des «One Belt, One Road»-Projekts eine Drehscheibe für Waren aus dem Königreich, aber auch für Produkte aus Kambodscha, Myanmar und Laos dar. Thailand kopiert im Kleinen die Idee Chinas, die eigene Volkswirtschaft durch Infrastruktur mit ärmeren Nachbarn mit Potenzial und Nachholbedarf zu verbinden. Thailand wird damit Teil der chinesischen Vision, mithilfe des Seidenstrassenprojekts 4,5 Milliarden Menschen ökonomisch zu verbinden. Thailands Vision ist es, durch den EEC einen Infrastrukturhub zu etablieren und die zusammengenommen zirka 250 Millionen Menschen der Wirtschaftsräume Thailands, Laos, Myanmars, Kambodschas und nicht zuletzt Vietnams an die Seidenstrasse anzuschliessen. 

Die Schweiz, mit ihrer hervorragenden Bahninfrastruktur, könnte sich als Hub mit Anschluss an den Endpunkt der Seidenstrasse in Duisburg verstehen, wenn die Schweiz denn möchte. Hierzu wäre es natürlich sinnvoll, die «Gotthard-Infrastruktur» nicht als politisches Diskursmittel zu verstehen, sondern sich unter Einbringen von Know-how und Infrastruktur als Teilhaber und Gestalter einer Vision zu präsentieren. Und was bedeutet das für das mit den USA angestrebte Freihandelsabkommen? Kurz gesagt, das eine tun, das andere nicht lassen.

Prof. Dr. Claus Schreier ist Dozent für Interkulturelles Management an der Mahidol University in Bangkok , Thailand, und an der Hochschule Luzern – Wirtschaft. Als Consultant berät und unterstützt er KMU bei deren Internationalisierung.

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