Von Führungskräften wird oft erwartet, dass sie eine beständige Entschlossenheit zeigen. Gradlinigkeit findet mehr Zuspruch als zweifelndes Abwägen. Ist das zu Recht so?
Sich stets hinterfragen
Im aktuellen Bestseller «Noise» der bekannten Verhaltensökonomen Kahneman, Sibony und Sunstein finden sich dazu interessante Überlegungen und Hinweise auf wissenschaftliche Studien und Experimente. Sie zeigen, dass die meisten Menschen gut daran täten, ihre eigene Meinung öfters selbst zu hinterfragen. Eine der beschriebenen Studien nennt sich das «Good Judgement Project». Ein Team um Philip Tetlock untersuchte, welche Eigenschaften Menschen mitbringen, die besonders oft treffende Prognosen über verschiedene Entwicklungen in der Zukunft in Bereichen wie der Politik oder der Volkswirtschaft abgeben. Natürlich helfen Eigenschaften wie Fachwissen oder allgemeine Intelligenz bei solchen Prognosen, aber eine ganz entscheidende Eigenschaft tönt relativ simpel: Es ist die Bereitschaft, seine eigene Meinung nur als im Moment gültige Annahme anzusehen und sich selbst mit seiner Meinung immer wieder zu hinterfragen. Die besten Prognostiker suchten nicht nach Gründen, warum ihre Annahmen zutreffen könnten, sondern sie suchten umgekehrt jeweils nach Gründen, warum ihre Annahmen nicht zutreffen könnten.
Die meisten Menschen folgen leider einer anderen Gewohnheit, in zweifacher Hinsicht. Erstens wird ein Urteil, eine Meinung oder eine Prognose zu irgendetwas in der Regel sehr schnell gebildet. Menschen entscheiden, lange bevor alle an sich relevanten Informationen gesichtet wurden. Ein Bruchteil der Informationen scheint zu genügen. Das wäre so weit noch nicht schlimm, würde man zu dem Zeitpunkt diese Meinung noch nicht fixieren. Aber, zweitens: Nach ihrer recht raschen Urteilsfindung neigen Menschen in der Folge dazu, nach Bestätigungen für ihre rasch gemachte Meinung zu suchen. In einer digitalen Welt voller Daten und Informationen ist es sodann in der Regel auch ein Leichtes, zahlreiche bestätigende Sachverhalte zu finden, womit die (vielleicht kreuzfalsche) Meinung sich verfestigt.
Besser wäre ein Vorgehen, wie es Karl R. Popper für die Wissenschaft propagierte: Eine erste Meinung bloss als Arbeitshypothese zu betrachten und anschliessend zu versuchen, diese Arbeitshypothese zu falsifizieren. Also Gründe zu suchen, um diese Meinung zu verwerfen oder zu revidieren. Doch diese Vorgehensweise haben Menschen nicht in ihren natürlichen Verhaltensmustern. Man muss sich dafür anstrengen und es ganz bewusst vollziehen.
Auch die Gruppenmeinung hinterfragen
In Gruppen wird die Falle der vorschnellen Meinungsbildung noch tückischer. Menschen haben nicht nur zu rasch eine Meinung gebildet, sie neigen auch dazu, in ihrer Gruppe einen Konsens zu suchen und die Meinungen entsprechend einander anzugleichen. Die Harmonie der Gruppe hat eine erstaunliche Kraft. Solomon Asch zeigte diese in den 1950er-Jahren mit den sogenannten Konformitätsexperimenten auf. Dabei sassen mehrere Personen an einem Tisch mit der Anweisung, sie sollten der Reihe nach eine jeweils gleiche Aufgabe lösen. Die Aufgaben waren oft sehr einfach. Es ging etwa darum, Längen von schwarzen Linien zu vergleichen.
Was die wirkliche Versuchsperson jeweils nicht wusste: Sie sass als einzige Versuchsperson am Tisch, die weiteren sechs Personen dort sahen nur so aus, waren aber Schauspieler. Diese Schauspieler äusserten gezielt und untereinander abgesprochen falsche Antworten auf an sich sehr einfache Aufgaben. Alle konnten das hören, auch die echten Probanden. Dass diese vermeintlichen Kollegen völligen Nonsens äusserten, war für neutrale Beobachter völlig offensichtlich, aber die Schauspieler taten es überzeugend und übereinstimmend.
Die entscheidende Frage war nun: Würden sich die echten Versuchspersonen diesem offensichtlichen Quatsch der Schauspieler entgegenstellen, oder würden sie sich der Gruppenharmonie zuliebe diesem anschliessen? Nur ein Viertel machte unter diesen Bedingungen keinen Fehler, der Rest liess sich zumindest teilweise vom «Gruppendruck» beeinflussen und äusserte haarsträubend falsche Antworten.
Ähnliches könnte sich auch an Verwaltungsrats-, Geschäftsleitungs- oder Team-sitzungen abspielen. Wenn die ranghöchste Person ihre Meinung zuerst kundtut, und wenn darauf weitere bestätigende Stimmen folgen, dann wird
es eine kritische Stimme richtig schwer haben und mit gewisser Wahrscheinlichkeit stumm bleiben. Mit potenziell folgenschweren Auswirkungen. Wie konnte der Verwaltungsrat der Swissair nur die offensichtlich zum Scheitern verurteilte Hunter-Strategie beschliessen? Aschs Experiment gibt eine mögliche Antwort.
In Aschs Experiment sinkt die Fehlerquote rapide, wenn unter den Schauspielern nur schon eine Gegenstimme ertönt. Ein Dissens im Raum kann also dazu führen, dass Teilnehmende ihre tatsächliche Meinung abgeben, was im Endeffekt zu besseren Urteilen führt. Es existieren wissenschaftliche Konsensfindungsmethoden wie zum Beispiel die Delphi-Methode, bei der in einem ersten Schritt Expertinnen und Experten ihre Meinung unabhängig fällen, und erst anschliessend werden die (dadurch meist sehr unterschiedlichen) Einschätzungen konsolidiert. In der Praxis kann sich ein Entscheidungsgremium aber auch ganz einfach darauf einigen, dass man sich öfters bewusst uneinig sein will, zumindest anfangs, wenn man in eine Diskussion einsteigt.