Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Abstand nehmen, bitte!

Gerade mit Blick auf das Jahresende ist es angebracht, sich mit Gedanken zu beschäftigen, die (scheinbar) jenseits von Nutzen und Effizienz liegen. Ein Plädoyer für die Kunst des Abstand-Nehmens als Quelle für Inspiration und Innovation.
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In der heutigen, schnelllebigen Arbeitswelt ist es zunehmend schwierig, Abstand vom beruflichen Alltag zu gewinnen. Der permanente Druck, effizient zu sein und fachliche Expertise zu demonstrieren, lässt oft wenig Raum für das Einnehmen übergeordneter und scheinbar fachfremder Perspektiven. Doch gerade die Fähigkeit, Abstand zu gewinnen, ist wichtig, um das grosse Ganze zu um­fassen, Sinnhaftigkeit zu erfahren und uns letztlich selbst als Mensch zu be­gegnen. Diese Herausforderung des Abstand-Nehmens im Rahmen unserer schnellen Geschäftigkeit ist gerade zum Jahresende spürbar, wenn wir uns Besinnlichkeit im Kreise unserer Liebsten erhoffen, aber zuvor oftmals in der Geschäftigkeit des Jahresabschlusses versinken. Aber auch sonst scheinen uns Techniken und Routinen des Abstand-Nehmens zunehmend fremd zu werden. Diese Fremdheit entsteht unter anderem auch dadurch – so meine These, als jemand, der in seinem «ersten Leben» als geschulter Literaturwissenschaftler tätig war –, dass wir uns zunehmend weniger zeitlich intensiv und fundiert mit dem Ästhetischen und scheinbar Nutzlosen beschäftigen, in Form von bildender Kunst, Literatur, Theater, Musik, Film etc. Die erneute Stärkung von Kunst und Kultur in unserem Alltag würde uns aber die Möglichkeit eröffnen, innerlich zu wachsen, die grossen Zusammenhänge zu erkennen und gleichzeitig unser berufliches Wirken zu bereichern.

Der Verlust an ästhetischer Bildung und Routinen

Unsere Bildungs- und Anreizsysteme fokussieren stark auf das Fachliche und Nützliche. Ästhetische Disziplinen treten in den Hintergrund, da sie nicht unmittelbar zur beruflichen Effizienz beitragen. Dieser Verlust an ästhetischer Bildung und ästhetischen Routinen führt auch dazu, dass wir Techniken und Routinen verlieren, die uns helfen, vom Alltag Abstand zu nehmen und Sinn in unserem Tun zu finden. Ohne diesen Raum für Reflexion und persönliches Erleben kann unsere Wahrnehmung durchaus verflachen, und wir laufen Gefahr, uns selbst aus den Augen zu verlieren. Die Beschäftigung mit Kunst und Kultur bietet die Möglichkeit, tiefe emotionale und geistige Erfahrungen zu machen. Sie eröffnet Räume, in denen wir uns mit Fragen auseinandersetzen können, die über den Alltag hinausgehen. Ein Gemälde zu betrachten, in einem Theaterstück zu versinken oder sich mit philosophischen Gedanken zu beschäftigen, berührt uns auf einer Ebene, die jenseits von Nutzen und Effizienz liegt. Diese Erfahrungen sind ein Wert an sich und bereichern unser Leben auf unvergleichliche Weise.

Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass die Auseinandersetzung mit ästhetischen Disziplinen positive Auswirkungen auf unsere berufliche Praxis haben kann. Root-Bernstein & Root-Bernstein fanden heraus, dass Wissenschaftler, die sich künstlerisch betätigen, häufig innovativer sind und bedeutende Beiträge in ihrem Fachgebiet leisten. Die kreative Flexibilität, die durch künstlerische Aktivitäten gefördert wird, kann zu innovativen Lösungen auch im beruflichen Kontext führen. Das Lesen von Literatur steigert nachweislich unsere Empathiefähigkeit. Kidd & Castano zeigten, dass das Lesen von literarischer Fiktion die Fähigkeit verbessert, die Gedanken und Gefühle anderer zu verstehen – die sogenannte Theory of Mind. Diese verbesserte Empathie fördert zwischenmenschliche Beziehungen und kann die Teamarbeit am Arbeitsplatz verbessern. Auch das Theater bietet wertvolle Impulse. Winner, Goldstein & Vincent-Lancrin fanden für die OECD heraus, dass Teilnehmer an Theaterprogrammen nicht nur ihre kreativen Fähigkeiten steigern, sondern auch ihr Selbstvertrauen und ihre sozialen Kompetenzen verbessern. Übertragen auf den beruflichen Kontext kann dies zu effektiverer Kommunikation und besserer Zusammenarbeit führen. Der Film als Kunstform ermöglicht es, komplexe Geschichten und Emotionen zu erleben. Filmanalysen fördern kritisches Denken und eröffnen neue Perspektiven. So betonen Marsh & Fazio, dass Filme als Bildungswerkzeuge genutzt werden können, um komplexe Themen verständlich zu machen und Diskussionen anzuregen.

Kreativität und Inspiration durch kulturelle Bildung

Auch die Philosophie ermutigt uns, grundlegende Fragen zu stellen und kritisch zu reflektieren. Dies hilft beispielsweise, den eigenen beruflichen Weg zu hinterfragen und neue Bedeutungen oder Ziele zu entdecken. Philosophische Reflexion trägt zur persönlichen Entwicklung und Sinnfindung bei, was sich positiv auf unser Wohlbefinden und unsere Effektivität auswirken kann. So betont die Philosophin Martha Nussbaum die Bedeutung der philosophischen Bildung für das Verständnis menschlicher Erfahrungen und Emotionen, was zu einer tieferen ethischen Sensibilität im Berufsleben führen kann. Auch der Philosoph Alain de Botton zeigt auf, wie philosophische Ansätze helfen können, alltägliche Herausforderungen besser zu bewältigen –  er interpretiert etwa Senecas Ansichten über Gelassenheit, um Strategien im Umgang mit Stress und Rückschlägen zu entwickeln.

Unternehmen erkennen durchaus den Wert ästhetischer Erfahrungen für ihre Mitarbeitenden und die Organisation als Ganzes. Siemens hat mit dem Siemens Arts Program – international aufgestellt, aber auch in der Schweiz verankert, zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Zürich – Kunst und Kultur in die Unternehmenskultur integriert. Dieses Programm fördert neben der Kunst und Kultur in den Bereichen bildende Kunst und Musik auch die Kreativität und Inspiration der Mitarbeitenden durch kulturelle Bildung. Studien von Schiuma zeigen, dass solche Initiativen gerade auch die Effizienz und Performanz von Organisationen steigern können. Die positiven Effekte können also beachtlich sein. Auch Barry & Meisiek weisen nach, dass Teams, die gemeinsam kulturellen Aktivitäten nachgehen, effektiver zusammenarbeiten und bessere Ergebnisse erzielen. Die Beschäftigung mit Kunst und Kultur scheint also die Innovationsfä­higkeit zu fördern und dadurch zur Verbesserung der Un­ternehmensleistung beizutragen – indem Mitarbeitende inspiriert und motiviert werden, steigt ihre Zufriedenheit und Bindung an das Unternehmen, was sich direkt auf die Produktivität auswirkt.

Der Wert des Ästhetischen

Es ist wichtig zu betonen, dass der Wert des Ästhetischen natürlich nicht in seiner Nützlichkeit für die Arbeit bewertet werden kann und soll. Die intrinsische Bedeutung unserer Erfahrungen mit dem Ästhetischen bereichert uns ontologisch. Die Kunst lehrt uns, die Welt mit anderen Augen zu sehen, das Unaussprechliche zu fühlen und uns mit dem Universellen zu verbinden. Diese Momente des Innehaltens, des Erfahrens und der Kontemplation halte ich für unverzichtbar für ein erfülltes Leben. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die innere Bereicherung, die wir durch das Ästhetische erfahren, auch positive Auswirkungen auf unser berufliches Wirken hat. Indem wir als Menschen wachsen, erweitern wir unser Potenzial in allen Lebensbereichen. Die Beschäftigung mit dem scheinbar Nutzlosen ermöglicht es uns, sowohl persönlich als auch beruflich zu wachsen. 

Und man muss nicht Siemens sein und ein entsprechendes grosses Budget haben, um sich im Berufsalltag auf das Ästhetische einzulassen. Vielmehr sind die Möglichkeiten, durch das Ästhetische nötigen Abstand and nötige Sinnhaftigkeit zu erleben, in jedem Arbeitskontext möglich: Wir können kulturelle Pausen einplanen, denn selbst eine kurze Begegnung mit Kunst und Kultur reicht oft aus, um neue Gedanken zu wecken und zu inspirieren. Wir können künstlerische und philosophische Momente als Reflexionsräume nutzen; nicht um unmittelbar produktiv zu sein, sondern um tiefer zu gehen und die Dinge aus anderer Perspektive zu sehen. Wir können ästhetische Erlebnisse im Team fördern; der Austausch über scheinbar zweckfreie Themen stärkt das Team und fördert eine gemeinsame Wertebasis. Und wir können schlicht immer wieder das Erleben des Sinnhaften priorisieren: Nehmen Sie die Schönheit und Tiefe der Erlebnisse auf und spüren Sie die Kraft, die diese Ästhetik Ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung verleiht.

Es liegt an uns, den Mut zu haben, uns auf das scheinbar Nutzlose einzulassen und den Reichtum zu entdecken, den es in unser Leben bringt. Indem wir uns Zeit nehmen für Kunst und Kultur schenken wir uns selbst die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen, Sinn zu erfahren und uns als Menschen zu entfalten – sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Arbeitskontextes.

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