Finanzen & Vorsorge

Geldpolitik

Zinswende in die falsche Richtung

Die Zinswende ist da. Allerdings nicht so, wie man sich das erhofft hatte. Anstatt mit An­hebungen der Leitzinsen die Normalisierung der Geldpolitik voranzutreiben (USA) beziehungsweise einzuleiten (Eurozone, Schweiz), haben die Notenbanken die Weichen wieder auf «Expansion» gestellt. Die US-Notenbank hat dabei Ende Juli den Anfang gemacht.
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SNB-Präsident Thomas Jordan hat dieses Jahr mehrfach gesagt, dass die Negativzinsen von heute – 0,75 Prozent – bei Bedarf noch weiter gesenkt werden könnten. Zwar halten sich Notenbanker gerne alle Optionen offen. Diese explizite Erwähnung einer möglichen Verschärfung des Negativzins-Regimes kam dennoch etwas überraschend und sorgte vereinzelt für Stirnrunzeln. Weshalb sollte die SNB die Zinsen noch weiter ins Negative drücken?
 

Starker Franken


Könnte ein Konjunkturstimulus das Motiv für noch tiefere Zinsen sein? Nicht, wenn man die Kreditvergabe und die Investitionstätigkeit der letzten Jahre in der Schweiz betrachtet. Das Wachstum der Ausleihungen lag stets über dem nominellen BIP-Wachstum. Der Zuwachs der realen Ausrüstungsinvestitionen bewegte sich im Wesentlichen im Einklang mit der globalen Konjunktur. Keine Kreditklemme, kein Investitionsstau also. Einen zusätzlichen Konjunkturstimulus in Form noch tieferer Zinsen braucht es nicht.

Den Aufwertungsdruck auf die Heimwährung zu reduzieren, ist das Haupt­argument der SNB für die Negativzinsen. Der Franken ist immer noch hoch be­wertet und notiert handelsgewichtet rund 10 Prozent höher als unmittelbar vor der Aufhebung des Euro-Mindestkurses im Januar 2015. Nach der damaligen schockartigen Aufwertung hat der Franken bis heute (06.08.2019) jedoch rund 4 Prozent verloren. Auch in diesem Jahr hatte er gegenüber den wichtigsten Währungen zunächst an Wert eingebüsst (–2,4 Prozent von Januar bis April).

Seither hat der Franken aber wieder um fast 5 Prozent zugelegt (siehe Abbildung 1), was unter anderem mit der anhaltenden Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Handelskonflikt, dem Brexit, dem Iran und Ähnlichem zu tun hat. Vor allem aber auch mit den jüngsten Entwicklungen in der Geldpolitik. Es droht deshalb womöglich dennoch «Zinssenkungsgefahr». An deren Ursprung steht die EZB. Um deren Handlungsweise einordnen zu können, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.

Gebranntes Kind


Verbrennt sich ein Kind an einer Herd­platte die Finger, so besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es aus dieser Erfahrung lernt und es nicht wieder tut. Ersetzt man in dieser Aussage «Kind» durch «EZB» und «Herdplatte» durch «Zinser­höhung», so umreisst dies das Verhalten der EZB. Sie befindet sich seit Längerem im Modus «gebranntes Kind».

Im Juli 2008, kurz vor dem Höhepunkt der Finanzkrise und bei einer Inflation von 4 Prozent, erhöhte die EZB die Leitzinsen noch einmal um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent (siehe Abbildung 2). Zu diesem Zeitpunkt hatte die US-Notenbank (Fed) den Leitsatz bereits um über drei Prozentpunkte gesenkt. Nur drei Monate später, kurz nach der Lehman-Pleite, riss die EZB das Steuer herum und begann die Zinsen zu senken (bis auf 1 Prozent im Mai 2009).

Ähnlich 2011: Die Eurokrise entfaltete gerade ihre volle Wirkung. Mit drei Prozent war die Inflation erneut leicht erhöht. Zweimal hob die EZB in dieser Phase die Zinsen an (auf 1,5 Prozent). Ganz anders die Fed. Sie hatte bereits Ende 2008 das Zielband für die Fed Funds Rate auf 0 Prozent bis 0,25 Prozent re­duziert. Ab Ende 2011 folgte die EZB mit Zinssenkungen, bis der Refinanzierungssatz gut vier Jahre später bei den noch heute geltenden 0 Prozent zu liegen kam.

Hier soll nicht der Nullzinspolitik das Wort geredet werden. Sie hat ihren Beitrag zur Stabilisierung geleistet, belastet das System jedoch auch erheblich. Aber klar ist: Rückblickend waren die Zins­anhebungen inmitten von Krisenphasen Schrit­te zur Unzeit. Dies erklärt die zögerliche Haltung der EZB in den letzten Jahren. Während die Fed in beide Richtungen entschlossen handelte, agiert die EZB aufgrund der schlechten Erfahrungen zurückhaltend. Sie wollte sich auf keinen Fall noch einmal die Finger verbrennen. Sie hat es dadurch verpasst, in den relativ krisenfreien guten Wachstumsjahren 2016 und 2017 Spielraum für den nächsten Abschwung zu schaffen. Im Gegenteil: Sie hat mehrfach ohne Not die expansive Geldpolitik zementiert.


Fed geht erneut voraus


Während die Fed die Normalisierung der Geldpolitik ab Ende 2015 mit Zins­erhöhungen eingeleitet hatte, entpuppt sich die (langersehnte) Zinswende in der Eurozone zusehends als die Karotte, welche man dem Esel an einer Rute vor die Nase hält und die er doch nie erreichen wird. Noch bis Juni 2018 bestand be­rechtigte Hoffnung, dass die EZB Anfang 2019 eine erste Zinserhöhung vornehmen würde. Doch dann erklärte EZB-Präsident Mario Draghi, die Leitzinsen würden «mindestens über den Sommer 2019» auf dem aktuellen Niveau bleiben.

Im März dieses Jahres verschob Draghi den Termin ins nächste Jahr («mindestens bis Ende 2019»), bevor er im Juli meinte, die Zinsen blieben mindestens bis Mitte 2020 auf dem heutigen Niveau – oder einem tieferen! Dieser Zusatz war neu und hat die Türe für eine Zinssenkung – sowie weitere geldpolitische Lockerungsmassnahmen – im September oder Oktober weit aufgestossen. Draghi begründete die in Aussicht gestellte Lockerung mit der nachlassenden globalen Wachstumsdynamik und dem schwachen Welthandel sowie der in seinen Augen nach wie vor zu geringen Inflation.

Ob eine Senkung des Refinanzierungs­satzes von 0 Prozent auf –0,1 Prozent be­ziehungsweise des Einlagensatzes von –0,4 Prozent auf –0,5 Prozent (oder so­-wie einige erwarten auf –0,2 Prozent beziehungsweise –0,6 Prozent) die gewünschte wachstums- und inflationsstimulierende Wirkung haben wird, ist mehr als fraglich. Sie könnte aber die hiesigen Währungshüter in die Bredouille bringen. Bleibt es seitens der EZB bei einer Senkung um –0,1 Prozent, wird die SNB die Zinsen wohl unangetastet lassen und weiterhin auf Devisenmarktinterventionen setzen. So wie sie das nach dem letzten EZB-Meeting von Ende Juli getan hat, als sie erstmals seit über zwei Jahren in etwas grösserem Umfang Schweizer Franken verkauft hat. Senkt die EZB die Leitzinsen hingegen um –0,2 Prozent, könnte sich die SNB veranlasst sehen, ebenfalls an der Zinsschraube zu drehen und die Zielgrösse für den Saron (Swiss Average Rate Overnight), der den Libor als Referenzzinssatz der SNB abgelöst hat, von –0,75 Prozent auf –1 Prozent zu senken.

Die Fed ist auch diesmal – unnötigerweise – bereits einen Schritt weiter. Sie hat Ende Juli erstmals seit Ende 2008 – und nach insgesamt neun Zinserhö­hungen zwischen Dezember 2015 und Dezember 2018 – das Zielband für die Fed Funds Rate um 0,25 Prozentpunkte gesenkt. Die US-Währungshüter begründen den Schritt – ähnlich wie die EZB – mit Wachstumssorgen und einer zu tiefen Teuerung. Diesem ersten Zinsschritt könnten weitere folgen. Dies scheint zwar übertrieben bis unnötig, doch können sich die Ame­rikaner dank der zuvor eingeleiteten geldpolitischen Normalisierung präventive Zinssenkungen leisten. Im Gegensatz zur EZB oder zur SNB, welche mit einer Verschärfung des Ne­gativzinsregimes das System nur noch mehr strapazieren würden.


Er ist wieder da


Nun ist er also wieder da: der Notenbank-Put. Die Gewissheit, dass die Währungs­hüter im Fall der Fälle rasch und unter Umständen auch vorbeugend eingreifen. In den USA war er im Zug der Normalisierung der Geldpolitik mit Zinserhöhungen und Bilanzabbau etwas in den Hintergrund gerückt. Die vorsorgliche Ankündigung und Umsetzung einer erneuten geldpolitischen Expansion mag für den Moment beruhigend wirken. Sie verstärkt aber auch die Abhängigkeit vom Geld­segen der Notenbanken. Für eine posi­tive Markt- und Konjunkturentwicklung braucht es mehr als billiges Geld von der Zentralbank.


Die Fed hat die Zinsen gesenkt, die EZB wird ihr wahrscheinlich folgen und die SNB kön­n­te sich gezwungen sehen nachzuziehen. Die Zinswende hat begonnen – allerdings nicht so, wie man sich das erhofft hatte.

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