Digitalisierung & Transformation

Digitale Veränderung Teil 2/6

Wie sich Individuen, Organisationen und der Wettbewerb «digitalisieren»

Bereits heute führt die digitale Revolution zu Veränderungen des individuellen Verhaltens, der organisationalen Wertschöpfung und des Wettbewerbsgefüges. Dieser zweite von sechs Beiträgen zur digitalen Veränderung zeigt Beispiele auf allen drei Ebenen auf und diskutiert die Absorptionskompetenz als Ansatzpunkt für einen konstruktiven Umgang mit ihnen.
PDF Kaufen

Veränderungen sind für Unternehmen nichts Neues, sondern ein Teil ihres täglichen Geschäfts. Doch die Veränderungen, mit denen wir im Rahmen der digitalen Transformation rechnen müssen, übersteigen das alltägliche Ausmass an Verschiebungen. Was das heisst, wurde im ersten Teil der Beitragsserie gezeigt («KMU-Magazin», Ausgabe 1-2/2019). Dabei wurde die Digitalisierung auch als «vierte industrielle Revolution» bezeichnet. Doch wie können Unternehmen mit dieser Situation umgehen, vor allem, wenn es dabei letztlich um das Überleben einer Organisation gehen kann? Der zweite Teil der Beitragsserie zeigt einerseits auf, dass wir uns bereits mitten im Prozess der digitalen Veränderung befinden und andererseits, wie Ansatzpunkte für unternehmerisches Handeln aussehen können.


Die «Absorptionskompetenz»

Insgesamt stellen sich vor dem Hintergrund grundlegender Veränderungen der digitalen Revolution Fragen wie zum Beispiel: «Sind Unternehmen auf die Veränderungen, welche die digitale Transformation mit sich bringen wird, vorbereitet?», «Können wir uns denn solche grundlegenden Veränderungen überhaupt noch vorstellen?», «Wie viel (digitale) Veränderung müssen Unternehmen selbst vornehmen, um in der neuen, digitalen Welt weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben?», «Mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmass müssen sie sich dazu verändern?», «Und wie kann, soll, muss das aussehen?»  Solche Fragen und vor allem die Antworten darauf erscheinen im unternehmerischen Alltag visionär. Oft bleibt kaum Zeit und Aufmerksamkeit, um sich vertieft mit diesen und weiteren Fragen auseinanderzusetzen. Dennoch ist dies auch für KMU notwendig, um eine längerfristige unternehmerische Zukunft zu sichern. Denn paradoxerweise brauchen Menschen bereits Vorwissen, um einen neuen Sachverhalt überhaupt zu erkennen und einschätzen zu können. Oder anders gesagt, je mehr wir bereits über ein (neues) Phänomen wissen, umso eher erkennen wir den Wert einer Information. Neue Wissensstücke fügen sich dann wie in einem Puzzle in ein sich entwickelndes Bild ein. Das ist einfacher, schneller und abschätzbarer, wenn bereits ein grosser Teil der Puzzlestücke zu einem Bild zusammengefügt wurden. Die Wissenschaft nennt diese Fähigkeit «Absorptionskompetenz» (Cohen & Levinthal, 1990). Die Fähigkeit, Neues einordnen zu können, ist immer dann besonders wichtig, wenn es um grundlegende Veränderungen oder um Innovationen geht. Auch wenn KMU also (noch) nicht selbst auf dem Gebiet der Digitalisierung aktiv sind, so lohnt es sich, Informationen einzuholen und diese kontinuierlich zu reflektieren. Dies kann über Spezialisten im Unternehmen geschehen oder aber über einen aktiven und offenen Austausch mit Externen.


Veränderungen auf drei Ebenen

Bereits heute lassen sich verschiedene Veränderungen als Folge des Einsatzes digitaler Technologien beobachten, die vieles, was wir bisher für selbstverständlich hielten, infrage stellen. Es geht um den Alltag von Individuen, um die organisationale Wertschöpfung und um die Wettbewerbslandschaft. 

Die individuelle Ebene

Auf individueller Ebene sind viele digitale Instrumente und Hilfsmittel bereits so selbstverständlich in unseren Alltag in­tegriert, dass wir sie nicht mehr als «neu» wahrnehmen. So lassen sich beispielsweise Verhaltensänderungen bei Indi­viduen feststellen, welche erst durch digitale Hilfsmittel entstehen konnten. Dies verdeutlicht das Beispiel einer Hotelaus­wahl. Es ist noch nicht lange her, dass die Auswahl eines Hotels nach den Kriterien Preis, Erreichbarkeit, Ort etc. stattfand. Heute verändert ein neues Kriterium den Entscheidungsprozess, die so­genannte «Instagrammability» oder «Instagram-­Fähigkeit» eines Hotels (z. B. o. V., 2018). Diese bezeichnet die Möglichkeit, mit dem Mobiltelefon Fotos in einem Hotel auf­nehmen zu können, die dann auf den persönlichen Instagram-Account der Besucher gestellt werden. Hotels greifen diese Verhaltensveränderung auf, indem sie die Örtlichkeiten bewusst so gestalten, dass den Gästen ein attraktiver oder auffälliger Hintergrund für Fotos angeboten wird. Denn als Hotels profitieren sie von den (oft kostenlosen) Beiträgen der Besucher über soziale Medien als Marke­tinginstrument. Unternehmen sollten ein Bewusstsein für solche Veränderungen im wahrgenommenen Nutzen und Ver­halten von Individuen entwickeln und sie verstehen lernen, um sie in strategische Entscheide einfliessen zu lassen. Indem Technologien individuelles Verhalten verändern, werden indirekt auch neue An­forderungen an Produkte und Services oder an die Funktionsweise von Unter­nehmen gestellt.

Die Ebene der organisationalen Wertschöpfung

Auf der Ebene der organisationalen Wertschöpfung hat sich die Situation für Unternehmen durch die Nutzung digitaler Technologien auch direkt verändert. Denn digitale Technologien bieten die Möglichkeit, die Wertschöpfung und die Logik des Wettbewerbs neu zu gestalten. Das heisst, es können einzelne Stufen in der Wertschöpfungskette wichtiger werden, neue hinzukommen oder bisherige entfallen. Dies zeigt sich am Beispiel digitaler Geschäftsmodelle und Unternehmen, wie beispielsweise Amazon als di­gitales Handelsunternehmen. Die digitale Lösung über eine Website und Plattform ersetzt beispielsweise den (Bücher-)Detailhandel, es braucht keinen Verkaufsraum und keine Buchhändler mehr. Stattdessen werden Logistik und Lager zu zentralen Stufen in der Wertschöpfung, die auch neue Lösungen ermöglichen. Dazu gehören im Bereich der Logistik der mögliche Einsatz von Drohnen statt herkömmlicher Postservices oder die bereits eingesetzten «Amazon Go»-Läden, welche auf eine Kasse vollständig verzichten. Sensoren und eine App ermöglichen so den bargeldlosen Einkauf ohne zeitaufwändiges An­stehen und an 7 Tagen und während 24 Stunden. So werden der Einkaufsprozess und die Wertschöpfungskette stark vereinfacht und zeitlich verkürzt. Das Konzept wird in der Schweiz bereits durch Valora mit der «Avec Box» aufgegriffen (siehe Amazon, 2018;  Valora, 2019).

Die Ebene der Wettbewerbsstrukturen 

Veränderungen sind auch auf der Ebene der Wettbewerbsstrukturen wahrnehmbar. Unternehmen müssen sich den Verschiebungen stellen, die um sie herum geschehen, sei es reaktiv oder proaktiv. Dies erfordert zunächst eine Sensibilisierung und ein Erkennen davon, was sich genau in der Umwelt eines Unternehmens verändert. In einem zweiten Schritt sollten die erkannten Modifikationen dann für die eigene Organisation aufgegriffen werden. Was passiert, sofern dies ausbleibt, zeigt sich bei einer langfristigen Beo­b­achtung der Unternehmens- und Wett­bewerbslandschaft. Vergleicht man nun also die er­folgreichsten Unternehmen aus den verschiedenen Jahren mitei­nander, so spie­gelt dies den Wandel der Organisationen und der Anforderungen, welche an diese gestellt werden, deutlich wider (siehe Abbildung 1). In der De­-kade zwischen 2008 und 2018 kon­nten sich nur zwei (Exxon Mobil, Microsoft) der zehn international erfolgreichsten börsenkotierten Unternehmen (Markt­kapitalisierung) unter den ersten zehn Rängen behaupten. Acht Unternehmen wurden im dargestellten Zeitraum von zehn Jahren durch andere Firmen in der Bestenliste abgelöst. Im Jahr 2018 baute der Erfolg der sechs wertvollsten Un­ternehmen (Apple, Amazon, Alphabet/Google, Microsoft, Facebook, Alibaba) sowie des siebten Ranges (Tencent Holdings) auf einem digitalen Geschäfts­modell auf. Zehn Jahre zuvor war dies lediglich für China Mobile und Micro­soft zutreffend. «Klassische» Unternehmen und Geschäftsmodelle aller anderen Branchen verlieren also an Bedeutung, sie sind weniger erfolgreich als noch vor zehn Jahren. Digitale Unternehmen dominieren hingegen die Wirtschaft zunehmend. Zudem fällt auf, dass sich die Marktkapitalisierung der ersten neun Ränge deutlich (zum Teil exponentiell) erhöht hat. So ist der Aktienwert von Apple innerhalb eines Jahres von 2016 bis 2017 um 25 Prozent von etwa 600 Mil­liarden US-Dollar auf über 800 Milliarden US-Dollar gestiegen. Ein gutes Jahr später, im August 2018, war der Aktienwert um weitere 20 Prozent auf über eine Billion US-Dollar angewachsen und durchbrach damit als erstes Unternehmen diese magische Grenze (zum Beispiel Finanzen.net, 2017, 2018).


Höhere Wettbewerbsdynamik

Bereits in den letzten Jahrzehnten liessen sich kontinuierliche Veränderungen in der Wettbewerbsdynamik feststellen, jedoch in deutlich geringerem Ausmass und erheblich langsamer als heute. Im Zeitraum zwischen 1960 und heute hat sich die Lebensdauer von Unternehmen zudem insgesamt deutlich verkürzt. Entscheidend für das Überleben ist stets der Erfolg am Markt. So sind im Jahr 2010 nur noch etwa fünf Prozent der 1960 kotierten Unternehmen auf dem Markt aktiv.  Es zeigt sich auch, dass dieser Prozess zeitlich immer schneller vor sich geht. Die durchschnittliche Lebensdauer von Unternehmen sank in den vergangenen Jahrzehnten deutlich. Dies ist insbesondere für den Zeitraum seit 1990 der Fall, also seit der Etablierung der Computertechnologie und seit der Öffnung des Internets für die Öffentlichkeit im Jahre 1991 (vgl. Govindarajan & Srivastava, 2016). Diese Entwicklung wird durch die aktuelle voranschreitende Digitalisierung beziehungsweise durch die vierte indus­trielle Revolution möglicherweise weiter verschärft. Wir können keinesfalls davon ausgehen, dass sich der Prozess wieder verlangsamt, also die «Zeit zurückgedreht» wird. Aus strategischer Sicht können Unternehmen nur dann mit Veränderungen konstruktiv umgehen, wenn sie sich auch verändern und ihre Funktionsweise und ihre Kompetenzen auf die neuen Anforderungen abstimmen. Denn neue Rahmenbedingungen erfordern neue Kompetenzen und Erfolgsfaktoren. Oft verändern sich die Spielregeln, sodass auch eine Verhaltensänderung auf in­dividueller und organisationaler Ebene notwendig ist. Gelingt dies nicht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die Unternehmen mittelfristig nicht «überleben» werden.


Fazit und Ausblick

Abbildung 2 fasst die mit den Veränderungen durch die Digitalisierung verbundenen Chancen und Herausforderungen für strategisches Handeln zusammen. Vor diesem Hintergrund sollten sich KMU unter anderem die in Abbildung 3 aufgeführten Fragen stellen und kontinuierlich oder in regelmässigen Abständen im Unternehmen diskutieren und reflektieren. Die digitale Transformation ist bereits in vollem Gange, wie der Beitrag gezeigt hat. Unternehmen müssen also heute die Weichen stellen, um in wenigen Jahren im digitalen Spiel noch mitzuspielen. Der dritte Teil der Beitragsserie («KMU-Magazin», Ausgabe 4-5/2019) diskutiert, an welchem Punkt der digitalen Reise sich Schweizer KMU aktuell befinden und warum es schwierig ist, von einer «digitalen Reife» zu sprechen.

Porträt