Digitalisierung & Transformation

Unternehmenskultur

Warum die digitale Transformation eine Vertrauenskultur braucht

Alles, was technisch machbar ist, wird auch gemacht. Das gilt auch für die Digitalisierung. Kritisch wird es dann, wenn Unternehmen zunehmend Personendaten ihrer Mitarbeiter erfassen, um etwa die Produktivität nicht nur von Maschinen, sondern auch von einzelnen Menschen real-time zu erfassen und zu evaluieren.
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Die Digitalisierung wälzt viele unserer Lebensbereiche tiefgreifend um. Manche Produktionsbetriebe sind schon weitgehend digitalisiert, wobei Roboter und Automaten mit einem Kostensatz um die 4.50 Franken pro Stunde zahlreiche 
Produktionsschritte unterstützen beziehungsweise bereits übernommen haben (Capaul, Mrisi, Klein und Ledergerber, 2018). Darüber hinaus hat die Digitalisierung weitere Bereiche und Branchen erfasst. Zunehmend mehr Auskunfts- und Bestelldienste werden von Bots dominiert, und Krankenkassen drängen immer offener darauf, ihre Prämien aufgrund der Verfügbarkeit von Kunden- bzw. Patientendaten individuell berechnen und anbieten zu können. Auch in der Schweiz werden Anlageberater durch die algo­­rithmengestützten Computerprogramme überflüssig, ja Banken und Ver­sicherungen insgesamt fürchten wegen der revolutionären Blockchain-Technologie um ihre Daseinsberechtigung. 


Grosse Umwälzungen

Die Digitalisierung ist auch in Bereichen angekommen, in denen man bis vor Kurzem nur müde darüber gelächelt hat.
So erfassen beispielsweise immer mehr Klubs im professionellen Fussball- oder Eishockeysport in Trainings und Spielen unzählige Leistungsdaten jedes einzelnen Spielers, um sie anschliessend bis ins kleinste Detail auszuwerten. Sport­direktoren fällen aufgrund der verfüg­-baren Daten ihre Transferentscheidungen und Teamcoaches richten ihre Strategien nach den aktuellen Werten der einzelnen Spieler aus (Berger, 2017). 

Digitalisierung ist und macht erfolgreich. Die Industrie 4.0 sorgt zusammen mit der hervorragenden Innovationskraft von Unternehmen wie etwa ABB, Bossard, Bühler, Burckhardt Compression, Maxon Motors, Schindler, SFS oder VAT dafür, dass das Hochlohnland Schweiz auch als Industriestandort weiterhin attraktiv bleibt. Seit Jahren gehört die Schweiz in unterschiedlichen Rankings zu den produktivsten Ländern der Welt.
 
Die Digitalisierung hat vor allem in den sicht- und greifbaren Bereichen von Unternehmen, den sogenannten «Hard Factors», bereits zu grossen Umwälzungen geführt. Fertigungsprozesse erfolgen mit 3-D-Druckern, die Montage wird von Robotern ausgeführt und riesige Lagerhallen fast ohne menschliche Unterstützung vollautomatisch bewirtschaftet. Auch administrative Prozesse, wie beispielsweise der Rechnungs- und Zahlungsverkehr, werden immer stärker digitalisiert. So lancierte der Schweizer Marktführer für KMU-Software, Abacus, neuerdings die auf künstlicher Intelligenz und maschi­nellem Lernen beruhende Software «Deep O», mit der erstmalig der gesamte buchhalterische Prozess von der Beleger­fassung bis zur Buchung automatisiert werden kann.
 
Etwas resistenter gegenüber der Digitalisierung erweisen sich «weiche Faktoren», wie zum Beispiel persönliche Werthaltungen und Einstellungen oder die kollektive Unternehmenskultur. Dennoch werden individuelle Motive bereits heute schon ebenso systematisch wie rücksichtslos von New-Media-Unternehmen wie Facebook oder Google aus – notabene freiwillig bereitgestellten – persönlichen Daten gewonnen, sofort ausgewertet und dann weiterverkauft.


Macht durch Personendaten

Welche Macht aus Personendaten destilliert werden kann, zeigt sich am Beispiel von China. Dort ist eine vollständige digitale Überwachung der Bevölkerung bereits weit fortgeschritten. Die Daten der Bürger der Volksrepublik werden schon heute weitgehend erfasst. Ab 2020 können sich Bürger für (partei-)konformes Sozialverhalten auf einem individuellen Konto Kreditpunkte gutschreiben lassen. Ebenso wird allfälliges Fehlverhalten zu Punkteabzügen führen. In der Konsequenz kann der individuelle Punktestand über Arbeit, Wohnung oder gar über die Schulzulassungen der Kinder entscheiden. Wer hätte gedacht, dass «Big Brother» so schnell bittere Realität werden würde? Für den Moment scheinen wir in unserer westlichen Welt von einer ähnlichen Erfassung der Privatsphäre und der damit verbundenen Einschränkung der individuellen Freiheiten noch weit entfernt. Die Tendenz, auf Unternehmensebene möglichst alle wesentlichen Erfolgsfaktoren individuell, zeitnah oder gar zeitgleich zu messen und auszuwerten, wird allerdings auch bei uns zunehmend spürbar. Die Technologie macht es möglich, die Produktivität nicht nur von Maschinen, sondern auch von einzelnen Menschen real-time zu erfassen und zu evaluieren. Bereits bieten unterschiedliche Unternehmen Umfragetools an, mit denen es möglich ist, auch «weiche» Messgrössen (wie beispielsweise Mitarbeiterzufriedenheit oder Mitarbeitermotivation) pro Organisationseinheit wöchentlich oder gar täglich zu erfassen, auszuwerten und mit anderen Organisationseinheiten zu vergleichen. Zudem gibt es immer mehr Möglichkeiten, Mitarbeitende in ihrer Tätigkeit zu «monitoren» oder direkt zu überwachen. 

Mitarbeiterkontrolle

Social Media, aber auch Anwendungen wie Skype for Business, zeigen jederzeit an, ob jemand «online» ist und was die Person gerade macht. UPS misst bereits seit einigen Jahren mit Sensoren, wann die Türen ihrer Lieferwagen geöffnet und wann sie geschlossen werden, wann der Motor startet und ob die Mitarbeiter angeschnallt sind. Die Investmentbank Barclays ging sogar so weit, unter den Schreibtischen der Angestellten Sensoren anzubringen, welche erkennen, ob jemand gerade anwesend ist. Amazon hat ein Überwachungsarmband registriert, mithilfe dessen präzise Armbewegungen der Mitarbeitenden getrackt und mittels Vibrationen in eine bestimmte Richtung geleitet werden können. 

Und bei der US-Firma «Three Square» lies­sen sich Angestellte freiwillig kleine Mikroprozessoren implantieren, mit denen es möglich ist, kontaktlos Türen zu öffnen, sich in den PC einzuloggen und Essen in der Kantine zu bezahlen. Zwar betont Todd Westby, der Chef von Three Square, dass Mitarbeitende nicht getrackt würden. Dennoch lässt sich im Prinzip mit Mikrochips eine lückenlose Überwachung der zu Cyborgs mutierten Angestellten sicherstellen (Lobe, 2018). Wo genau in der Welt diese Daten gesammelt werden und was mit ihnen geschieht, bleibt unklar.


Abstand halten

Die Digitalisierung stellt mit diesen neuerdings zugänglichen Informationen ganz generell das Wertesystem von Unternehmen auf die Probe. Ebenfalls betroffen sind Führungsstile, die Art und Weise der internen Kommunikation, aber auch das Qualitätsbewusstsein und die Unternehmenskultur als Ganzes. Jede Firma ist im Angesicht der disruptiven Veränderungen gefordert, bezüglich des Umgangs mit «weichen Faktoren» aktiv und zeitnah eine Haltung zu entwickeln und vorzuleben. Wer hat beispielsweise Zugang zu verfügbaren Daten? Oder was geschieht mit diesen Daten? Werden solche essenziellen Fragen nicht explizit geklärt und proaktiv kommuniziert, besteht die Gefahr, dass mitarbeiterseitig Mutmassungen, Gerüchte und Halbwahrheiten spriessen wie Giftpilze im Dunkeln. 

Die fatale Möglichkeit, dass Unternehmen alles wissen könnten, kann eine Vertrauenskultur massiv untergraben. Der bekannte deutsche Managementautor Reinhard Sprenger bringt es deshalb auf den Punkt: «Anständige Unternehmen halten Abstand.» Sie tun nicht alles, was technisch möglich ist, sondern verzichten bewusst auf digitale Zudringlichkeiten (Sprenger, 2015). 


Freiräume als Vorleistung

In Volkswirtschaften mit hohen Lohnkosten wie etwa der Schweiz hängt der Erfolg von Unternehmen stark von deren Innovationsfähigkeit ab (Waibel und Käppeli, 2015). Innovationen bedingen zwingend menschliches Zutun. Deshalb braucht es individuelle Freiräume für und Vertrauen in die Mitarbeitenden. Vertrauen in Organisationen setzt das Erbringen von riskanten Vorleistungen voraus. Eine solche Vorleistung kann zum Beispiel darin bestehen, dass man nicht alles über das Verhalten eines Partners weiss und dennoch darauf vertraut, dass der Partner sich hinsichtlich gemeinsamer Normen konform verhalten wird (Waibel, 2015). 

In einer Vertrauenskultur nimmt ein Unternehmen gegenüber Mitarbeitenden bewusst ein «Nicht-Wissen» in Bezug auf das Verhalten eines Mitarbeitenden ein. Vertrauensvolle Firmen erbringen also die Vorleistung des «Nicht-Wissens» und gewähren den Mitarbeitenden dadurch Freiräume. Eine solche Vorleistung des «Nicht-Wissens» kann beispielsweise Kon­trollverzicht in Bezug auf Zeit und Ort der Arbeit von Mitarbeitenden sein (gelebt etwa in der Ermöglichung für Home Office oder dem Verzicht auf Arbeitszeiterfassung). Die Firma erwartet im Gegenzug Selbstverantwortung für die individuelle Zielerreichung jedes Mitarbeitenden (Sprenger, 2018).

In unserer digitalisierten Welt, in der bereits jetzt nicht nur jeder einzelne Arbeitsschritt, sondern auch die Ver­weildauer in Applikationen oder die aktuelle Verfügbarkeit von Mitarbeitenden erfasst werden kann, fällt diese Vorleistung des «Nicht-Wissens» grundsätzlich weg. Zudem ist oft unklar, wer genau zu welchen elektronisch verfügbaren persönlichen Informationen Zugang hat und wie diese verwendet werden. Wenn es beispielsweise möglich ist zu sehen, wer wann und wo im System eingeloggt ist, muss gleichzeitig geregelt werden, wer Zugang zu solchen Daten hat und wer die Informa­tionen wie verwenden darf. 

Damit das so eminent wichtige bestehende Vertrauen nicht zerstört wird, sind Unternehmen gefordert, die in einer digitalisierten Welt wegfallende Vorleistung des «Nicht-Wissens» durch die Vorleistung des bewussten «Nicht-Wissen-Wollens» zu ersetzen. Damit werden Mitarbeitenden willentlich Freiräume gewährt und so aktiv Vertrauen geschaffen. Diese Vorleistungen sind explizit in einem Leitbild, Führungsverständnis oder Code of Conduct festzuhalten und von den Führungspersonen des Unternehmens konsequent vorzuleben. Papier ist geduldig – auch Firmengrundsätze werden an konkreten Taten gemessen.


Auf Vertrauen setzen

Alles, was technisch machbar ist, wird natürlich auch gemacht. Es ist zu hoffen, dass inländische Unternehmungen auch weiterhin stark auf Vertrauen und damit auf ihre Innovationskraft setzen. Nur so kann die Schweizer Wirtschaft ihre ausgezeichnete Wettbewerbsfähigkeit weiterhin erhalten und stetig weiterentwickeln. Vertrauen als Basis einer starken Unternehmenskultur, welche sich positiv auf die Innovations­fähigkeit der Firmen  auswirkt, wird dabei ein entscheidender Erfolgsfaktor sein. Gleichzeitig ist Vertrauen so fragil wie der Flügel eines Schmetterlings und kann weder ver­ordnet noch herbeigemanagt werden. Gerade weil künftig technologisch (fast) alles möglich sein wird, werden sich ethisch verpflichtete und systemisch denkende Führungspersonen in ihren Unternehmen ganz bewusste digitale Selbstbeschränkungen auferlegen, um sich dieses so wichtige Vertrauen zu verdienen.

Porträt