Digitalisierung & Transformation

Gehirn 4.0

Über das analoge Gehirn in digitalen Zeiten

Vom Smartphone über den 3-D-Drucker bis zum selbstfahrenden Auto – die digitale Transformation schreitet unaufhaltsam voran. Ab was macht die Digitalisierung mit unserem Gehirn, droht uns die «digitale Demenz»? Und ist das Steinzeithirn mit der Digitalisierung überhaupt vereinbar?
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Das Rad zurückdrehen möchte niemand. Was bleibt, sind wichtige Fragen: «Wie gehen wir am besten mit Digitalisierung um, damit wir davon profitieren können?» und «Gibt es die Möglichkeit, nicht trotz, sondern durch digitale Tools schneller, konzentrierter – und ausgeglichener im Sinne der Work-Life-Balance – zu sein?» Dieser Beitrag soll den Einfluss der Digitalisierung auf das Gehirn – aus neurowissenschaftlicher Sicht – beleuchten.

Der Übergang von der analogen in die digitale Welt ging rasant vor sich. 1969 war die Geburtsstunde des Internets, 2003 gilt als Startpunkt des digitalen Zeitalters. Damals gab es geschätzt mehr Daten im digitalen als im analogen Format. Schliesslich Google, der Touchscreen am I-Phone, Messenger-Dienste wie Whatsapp und jetzt autonom fahrende Autos, 3-D-Druck und Alexa. 

Die Digitalisierung macht vor keinem Bereich halt. Und die meisten von uns haben die digitalen Vorzüge längst in ihr Leben integriert. Ob Basics wie Telefonspeicher, Navi oder Kalender im Smartphone – das Leben ist bequemer geworden. Wir müssen uns nichts mehr merken, weil wir alles ständig dabei und griffbereit haben. 


Gehirn-Basics

Kommt unser Gehirn als zwei Millionen Jahre altes, analoges Steinzeitgebilde überhaupt mit der Digitalisierung zurecht? Dazu ist es wichtig, einige Basics zu kennen: Prinzipiell ist unser Gehirn extrem wandelbar und anpassungsfähig. Es ist zu grandiosen Leistungen fähig, wenn es richtig benutzt wird. Wichtig dafür ist die Grundversorgung: Ausreichend Getränke über den Tag verteilt und eine ausgewogene Ernährung bilden die Basis für einen konzentrierten und fokussierten digitalen Alltag.

Wenn unser Gehirn gut funktioniert, schüttet es Botenstoffe und Hormone in den richtigen Massen aus: Serotonin sorgt dafür, dass wir uns wohl fühlen und guter Stimmung sind. Wenn wir ins Tun kommen wollen, brauchen wir Dopamin, dessen Ausschüttung unter anderem durch Bewegung angeregt wird. Glückshormone, sogenannte Opioide, folgen, wenn wir ein Ziel erreicht haben. Deren Wirkung verpufft allerdings rasch. Dann brauchen wir wieder Dopamin, um ein neues Vorhaben an­zugehen.

Ein wichtiger Faktor für die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns ist der Stresslevel, dem wir unterliegen. Mässiger Stress macht uns konzentriert und aufmerksam. Wenn der Stress hingegen zu viel wird, werden wir vergesslich und unkonzentriert. Sehr starker Stress über lange Zeit schädigt gar das Gehirn. Wer auf sich selbst und die Signale hört, die ihm sein Körper und damit sein Gehirn sendet, kann meist ganz gut einschätzen, was zu viel ist und wie viel Stress er noch ohne Schaden aushält.

Unser Gedächtnis schliesslich arbeitet umso besser, je mehr wir es nutzen. Es ist allerdings schnell überlastet. Nur ein Bruchteil unserer Eindrücke schafft es ins Bewusstsein. Dann müssen noch viele Faktoren stimmen, damit wir Fakten langfristig abspeichern. Das sind zum Beispiel neben dem schon genannten richtigen Hormoncocktail und mässigen Stresslevel auch Interesse, vorhandenes Wissen sowie die richtige Dosis an In­formationen.

Der «Zoom»-Faktor 

In den letzten Monaten fand eine digitale Disruption ohnegleichen statt. Was nie für möglich gehalten wurde, war plötzlich Wirklichkeit: Fast alle Büroarbeitsplätze wurden digital. Doch dabei fanden auch die Grenzen des Homeoffice ihren Ausdruck im neu entstandenen Begriff «Zoom-Fatigue», also «Zoom-Mü­digkeit». Sie beschreibt die Tatsache, dass wir Webmeetings als extrem ermüdend empfinden. 

Das Problem liegt darin, dass unser Gehirn in «normaler, analoger» Kommunikation aus der Körpersprache des Ge­genübers Informationen sammelt und wir deshalb in einer bestimmten Art und Weise reagieren.

Online sehen wir maximal den Oberkörper, oft nur den Kopf unserer Gesprächspartner. Wir hören den Atem nicht, wenn der andere Luft holt, um uns zu unter­brechen. Wir sehen die Mikromimik nicht. Diese kleinen Muskelbewegungen im Gesicht machen den Unterschied, ob wir ein Lächeln als echtes Lächeln erkennen oder ob es auf uns «falsch» wirkt. Unser Gehirn versucht während eines Online-Meetings die ganze Zeit, diese nonverbalen Signale zu erkennen – ohne Erfolg. Dafür verbraucht es ziemlich viel Energie. Und das macht müde. 

Stress im Homeoffice

Ein wichtiger Faktor im Homeoffice ist, dass wir meist nicht allein sind. Ob Partner oder zu betreuende Kinder – auch bei optimaler Selbstbeschäftigung und grosszügiger Wohnsituation können wir niemals unsere ganze Konzentration auf das, was vor uns liegt, fokussieren. Unbewusst sind wir immer im Alarm-Modus. All das bedeutet für unser Gehirn: Stress. Statt Kuschelhormone wie Oxytocin auszuschütten, wenn wir uns beim analogen Meeting die Hand geben, sind die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin angesagt. 

Statt im kurzen Smalltalk vor dem Meeting die Atmosphäre und Stimmung der Kollegen auszuloten, versucht unser Gehirn, neben der Konzentration auf das Inhaltliche, am Bildschirm alle Teilnehmer im Blick zu haben. Und das, obwohl dort bestenfalls kleine Kacheln von einigen wenigen Anwesenden zu sehen sind. Und so wissen wir auch nach einem langen virtu­ellen Meeting immer noch nicht, wie es ihnen geht und ob wir unterstützen sollten oder selbst auf Unterstützung hoffen können.


Ineffizientes Multitasking 

Vielleicht haben Sie sich oder Ihre Angehörigen auch schon bei einem relativ neuen Phänomen ertappt: Beim Hantieren mit dem «second screen». Wenn wir zum Beispiel fernsehen, haben viele nebenher noch ihr Smartphone in der Hand. Wenn Sie an einem Webmeeting teilnehmen, werden Sie sehr wahrscheinlich ab und zu wenigstens kurz E-Mails oder Whatsapps checken. Ihnen gibt das das Gefühl, effizient zu sein. Für Ihr Gehirn heisst das jedoch: Multitasking. Und das funktioniert nicht. 

Wenn wir konzentriert und effizient arbeiten wollen, dann geht das nur an einer einzigen Aufgabe. Sobald eine andere dazukommt, sind wir nicht mehr aufmerksam bei der Sache. Das merken Sie spätestens dann, wenn Sie das E-Mail, das Sie während eines Telefongesprächs geschrieben haben, noch einmal senden müssen, weil Sie den Anhang vergessen haben. Gehirngerecht arbeiten bedeutet: eine Aufgabe nach der anderen erledigen, nicht gleichzeitig.


Das Google-Gedächtnis 

Ein grosser Vorteil der Digitalisierung und des Internets ist, dass das Wissen dieser Welt ständig und in nie vorstell­barem Ausmass zur Verfügung steht. Wir müssen einfach nur googeln. Während wir früher auf der Suche nach Antwort in Büchern nachgeschlagen haben, schauen wir jetzt kurz ins Internet. Weil dieser ausgelagerte Teil unseres Gedächtnisses immer verfügbar ist, machen wir uns nicht mehr die Mühe, uns etwas zu merken. 

Doch das ist fatal. Denn wer nichts weiss, der kann keine Entscheidungen treffen. Der muss sich auf sein Umfeld verlassen, das es ihm die «richtige» Entscheidung vorgibt. Hier hilft dem Gehirn: Denken Sie bewusst nach, bevor Sie googeln. Sie werden sich an das eine oder andere erinnern, wenn Sie Ihrem Gedächtnis nur die Chance dazu geben. Sprechen Sie miteinander, vielleicht finden Sie gemeinsam die richtige Antwort heraus. 


Fazit

Die Digitalisierung hat viel Segensreiches gebracht, die Welt ohne sie wäre sicherlich ärmer. Nutzen wir einfach beides: die faszinierende digitale Welt und die Freude des analogen Lebens 1.0. Lassen wir unser Gehirn 4.0 das tun, was es am liebsten tut: arbeiten. Mit unseren fünf Sinnen, die unser Gehirn zu einem Gesamtbild verarbeitet. Dem Abbau von Stresshormonen und Anschub der Do­paminproduktion bei Bewegung. Dem haptischen Erlebnis beim Blättern in Lexikon oder Atlas. Die Dopaminproduktion läuft dabei schon auf Hochtouren, ganz analog. 

Porträt