Digitalisierung & Transformation

Digitale Veränderungen Teil 1 von 6

Strategische Herausforderungen der digitalen Transformation

Die digitale Transformation wird vieles grundlegend verändern. Doch womit müssen Unternehmen rechnen? Dieser erste von sechs Beiträgen zeigt am Beispiel der Digitalisierung als sogenannte «vierte industrielle Revolution» auf, warum (digitale) Veränderungen von strategischer Relevanz sind und was sich dabei verändern wird.
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Umfragen zeigen, dass Schweizer Unternehmen die aktuell voranschreitende digitale Transformation zugleich als Segen und als Fluch sehen (zum Beispiel Bühler et al., 2019; Institut für Unternehmensführung, 2017). Einerseits bietet die Digitalisierung die Möglichkeit, Chancen zu realisieren, welche ohne die neuen Technologien bislang kaum möglich waren. Dazu gehören ausser Effizienzvorteilen auch Netzwerkvorteile oder die systematische Nutzung von Plattformen in innovativen Geschäftsmodellen. KMU können so schneller agieren, sich neu positionieren und dabei neue und grössere Gruppen von Stakeholdern erreichen. Diese Möglichkeiten helfen Unternehmen dabei, sich im globalen Wettbewerb zu behaupten.


Neue Spielregeln

Andererseits wird die Digitalisierung zunehmend als «Disruption» betrachtet, welche zu grundlegenden Verschiebungen und zu neuen Spielregeln im etablierten Wettbewerbsgefüge führt. Der Grund dafür sind sich verändernde Erfolgslogiken, mit denen viele etablierte KMU nicht vertraut sind. Der Wettbewerb in einer digitalen Welt funktioniert anders als der Wettbewerb in einer analogen Welt. 

Ein erster Schritt besteht also darin, ein Verständnis für die sich herausbildenden Muster zu entwickeln. In einem zweiten Schritt können diese dann systematisch aufgegriffen und zum Beispiel in innovative Geschäftsmodelle transferiert werden, welche auf den digitalen Möglichkeiten und auf den neuen Spielregeln aufbauen. Doch womit müssen Unternehmen genau rechnen und welche strategischen Fragen sollten sich KMU regelmässig stellen? Der Beitrag fasst wichtige Hintergrundinformationen zusammen.


Veränderungen und Strategie

Zu den grundlegendsten Fragen in der Strategie gehört «Warum sind manche Unternehmen erfolgreicher als andere?» oder «Welchen Vorteil haben manche Unternehmen im Vergleich zu ihren Wettbewerbern?». Wir suchen also nach Vorteilen im Wettbewerb, welche den Erfolg von Unternehmen begründen. 

Selten lässt sich auf diese Fragen eine eindeutig «richtige» oder «falsche» Antwort finden. Vielmehr hängt der Erfolg von Unternehmen von einer Vielzahl Faktoren ab, einige davon befinden sich im eigenen Unternehmen, andere sind in der Unternehmensumwelt zu finden. Unternehmen und Umwelt sind dann untrennbar miteinander verknüpft. Sinnvolle Handlungen eines Unternehmens hängen nicht nur von der eigenen Situation, sondern auch davon ab, was die anderen tun, ähnlich wie in einem Spiel. Auch wenn Unternehmen eine oder mehrere Antworten auf die oben genannten Fragen gefunden haben, so gelten diese nicht für alle Zeiten, denn das Gefüge aus Unternehmen und Umwelt verändert sich stetig. Sofern die voranschreitenden Veränderungen «greifbar» sind, können Unternehmen diese frühzeitig in Aktivitäten und Ressourcen übersetzen, also in das, was Unternehmen «tun» und «haben».


Wachsende Relevanz

Herausfordernd wird es, wenn sich die Strukturen verändern, sich also neue Spieler oder neue Spielregeln etablieren, die wir nicht richtig einschätzen können. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn unklar ist, was sich verändert, wie und wann es sich verändert oder wie ein zukünftiger Zustand überhaupt aussehen kann. In einer solchen Situation ist es fraglich, was Unternehmen tun sollen oder müssen, um kurz- und längerfristig im Wettbewerbsspiel überhaupt noch mitspielen zu können. Sicher ist in dieser Situation nur, dass es unternehmerische Veränderungen zwingend braucht. So zeigen Studien, dass «Nicht-Handeln» in sich rasch verändernden Umwelten nur selten (circa fünf bis zehn Prozent der Fälle) zu Erfolg von Unternehmen führt (Zook, 2007). 

Grundlegende Veränderungen in der Unternehmensumwelt, sogenannte «Mega­trends», die Gesellschaften und Unternehmen nachhaltig beeinflussen, sind daher für Strategen von besonders grossem Interesse. Oft werden diese durch technologische Neuerungen und Innovationen angestossen. Strategie und Technologie sind zwingend miteinander verknüpft, denn neue Technologien ermöglichen es Unternehmen, die Dinge anders zu tun oder andere Dinge anzupacken. Neue Technologien haben das Potenzial, etablierte Strukturen, Vorgehensweisen und Vorteile im Wettbewerb infrage zu stel­­-len und diese grundlegend zu verändern. Wir sprechen dann von «Disruptionen» (vergleiche hierzu Teil 5 und 6 der Beitragsserie). Je umfassender und schneller die technologische Veränderung stattfindet, umso grösser ist die strategische Relevanz für Unternehmen.

Früh erkennen und reflektieren

Dies gilt sowohl im Guten wie im Schlechten. Denn Veränderungen sind prinzipiell neutral. Es kommt vielmehr darauf an, ob Unternehmen die für sie relevanten Veränderungen überhaupt wahrnehmen und ob sie diese als Chance oder als Herausforderung interpretieren. Chancen und Herausforderungen liegen dabei oft nahe beieinander und sind nicht immer eindeutig zu erkennen. Ob eine Veränderung für ein konkretes Unternehmen eher eine Chance oder eher eine Herausforderung darstellt, hängt davon ab, ob das Unternehmen selbst ein angemessenes Wahrnehmungs-, Diskussions- und Verhaltensrepertoire aufgebaut hat oder nicht. Vieles kann geschult und bewusst gemacht, aber nur wenig kann von heute auf morgen grundlegend umgeworfen werden. Wichtig ist, dass Veränderungen frühzeitig erkannt und kritisch reflektiert werden und Unternehmen sich mit möglichen Konsequenzen offen auseinandersetzen. Manchmal tut das weh. Es kann sein, dass man sich von Vertrautem und Liebgewonnenem verabschieden muss, um Raum für Neues zu schaffen. In allen Fällen braucht dieser Prozess Zeit und Aufmerksamkeit. Meistens erfordert er auch den Einsatz weiterer (finanzieller) Ressourcen.


Vierte industrielle Revolution

Wir gehen heute von einem grundlegenden Wandel, möglicherweise den massivsten Veränderungen seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, aus. Die Digitalisierung wird daher als «vierte industrielle Revolution» bezeichnet (zum Beispiel Brynjolfsson & McAfee, 2014), die weitreichende Konsequenzen mit sich bringt. Was verbirgt sich hinter dieser Annahme? Seit Mitte des 18. Jahrhunderts waren mehrere tiefgreifende Veränderungswellen zu beobachten, die die Leistungserbringung nachhaltig beeinflusst haben. Solche Veränderungen stellen das bis dahin geltende System des Wirtschaftens grundlegend infrage, und sie etablieren völlig neue Funktionsweisen, die zuvor nicht denkbar waren. Angestossen durch neue Technologien wird Bestehendes im Sinne einer «kreativen Zerstörung» (Schumpeter, 1934) obsolet, um Innovatives zu ermöglichen. Unternehmerische Leistung wurde während jeder dieser Veränderungswellen durch neue technologische Möglichkeiten auf ein neues Niveau gehoben. Wir gehen von insgesamt vier industriellen Revolutionen aus (siehe auch Abbildung 1).

Als erste industrielle Revolution wird der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet. Kapitalintensive Maschinen, die auf Dampfkraft basieren, ersetzten dabei menschliche Handarbeit als Produktionsfaktor. Das war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dominierend für die organisationale Leistungserstellung. Das Prinzip wurde während der zweiten industriellen Revolution und durch den neuen elektrischen Antrieb intensiviert und fortgeführt. So etablierten sich Routinisierung, Vereinheitlichung und Massenproduktion mit dem Eintritt ins 20. Jahrhundert als zentrale Ideen. Bis zum Beginn der 1980er Jahre finden sich diese sowohl im Betrieb als auch in den Büros von Organisationen wieder. Viele Prinzipien, nach welchen die Unternehmen heute noch funktionieren, stammen aus dieser Zeit. Dazu gehören formelle Strukturen und Hierarchien, Kontrolle, Economies of Scale (Mengeneffekte) oder Transaktionskosten. 

Die dritte industrielle Revolution wurde mit der Verbreitung des Personal Computers und der Öffnung des Internets für die Öffentlichkeit in den 1980er-Jahren eingeleitet. Wissen und Ideen nahmen neben den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital eine zentrale Stellung ein. Einerseits, da sie mühelos und auf globaler Ebene verbreitet werden konnten. Andererseits, da sie durch den Transfer in innovative Produkte, Services, Prozesse oder Organisationsprinzipien immer wieder neue Vorteile im Wettbewerb schaffen und so Wachstum anstossen konnten. Dabei zeigte sich, dass viele der etablierten Prinzipien an Gültigkeit verlieren. Seit einigen Jahren nehmen wir zunehmende Veränderungen bei der Leistungserstellung zugunsten digitaler Möglichkeiten wahr und sprechen von der vierten industriellen Revolution. Was sie charakterisiert, wird nachstehend aufgezeigt.


Kürzere Veränderungsintervalle

Aus dem Vergleich der vier industriellen Revolutionen (Abbildung 1) wird zudem deutlich, dass die Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen stattfinden, mit jeder neuen Phase zunimmt. Grosse Ver-
änderungsschübe folgen im Zeitverlauf schneller aufeinander, und die eher stabilen Zeiträume dazwischen werden kürzer. Die Dauer der ersten industriellen Revolution betrug etwa 120 Jahre, während die der dritten bereits auf 30 Jahre verkürzt wurde. Wir können davon ausgehen, dass die sogenannte «vierte industrielle Revolution» im Zusammenhang mit der Digitalisierung eine noch kürzere Dauer mit sich bringen wird. Es macht also Sinn, sich heute bereits Gedanken darüber zu machen, was nach der digitalen Revolution möglicherweise auf uns zukommen wird und welche neuen Technologien und Ideen unsere Zukunft beeinflussen könnten. Unternehmen müssen sich also schnell und grundlegend umformen und sich gedanklich schon mit den nächsten grossen Veränderungsschüben auseinandersetzen. Veränderung wird damit zum «Normalzustand».

Die Besonderheiten

Im Vergleich zu den vorausgehenden drei industriellen Revolutionen lassen sich die folgenden Besonderheiten identifizieren, die auf digitalen Technologien aufbauen:

Die Bedeutung von Daten

Digitale Technologien ermöglichen es, immer und überall Daten («Big Data») zu allen denkbaren Sachverhalten, Verhaltens- und Interaktionsweisen zu sammeln und zu speichern. Diese können anhand von Data Science, Data Analytics oder Business Intelligence analysiert und ausgewertet werden, um darauf aufbauend neue Produkte oder Services anzubieten. Oft ist heute unter anderem noch gar nicht klar, welche Daten in Unternehmen schon vorliegen, wo sie sind, wie sie aus Maschinen extrahiert werden können oder was genau mit den Ergebnissen geschehen kann und soll. 

Künstliche Intelligenz

Durch den Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz helfen Daten zudem, dass Algorithmen aus der Vergangenheit selbst lernen und sich an sich verändernde Bedingungen kontinuierlich anpassen. Die Bedeutung des Menschen beziehungsweise des Produktionsfaktors Arbeit oder des Kapitals sinkt dann weiter. Unternehmerische Werte liegen in den gesammelten und aufbereiteten Daten, welche das Unternehmen selbst nutzen oder wiederum anderen Organisa­tionen anbieten kann.

Vernetzung

Das Beispiel der Migros zeigt, dass durch die Vernetzung der Aktivitäten und Daten neue Erkenntnisse gewonnen werden können. In einer digitalen Welt sind den Möglichkeiten der Vernetzung generell keine Grenzen mehr gesetzt. Menschen können mit Menschen oder mit Maschinen vernetzt werden, neue Prozesse und neue Arten der Arbeitsintegration werden möglich. Vieles lässt sich automatisieren und unabhängiger vom Menschen gestalten. Dies ermöglicht eine Neukonfiguration der Wertkette, neue Geschäftsmodelle und neue Arbeitsformen.

Neue Kompetenzen, neues Wissen

Für viele Unternehmen werden künftig alle Wissensbereiche, die mit der Digitalisierung zusammenhängen, an Bedeutung zunehmen. Auch dann, wenn das (heutige) Kerngeschäft auf einem ganz anderen Gebiet liegt. Ohne Daten, Software oder Algorithmen wird es schon in naher Zukunft kaum mehr gehen. Dies stellt viele Unternehmen vor die Frage, ob ihre aktuellen digitalen Kompetenzen auch in Zukunft ausreichen werden und ob es sich lohnt, solche Fähigkeiten gezielt aufzubauen oder von extern zu beziehen. 

Ein Verzicht auf digitale Kompetenzen im eigenen Haus durch ein Outsourcing kann künftig zu grossen Abhängigkeiten führen. Zudem können viele neue und vielversprechende Geschäftsoptionen ohne ausreichende Kenntnisse auf diesen Wissensgebieten gar nicht oder nur zu langsam wahrgenommen werden.


Chancen und Risiken

Abbildung 2 fasst die mit den Veränderungen durch die Digitalisierung verbundenen Chancen und Herausforderungen für strategisches Handeln zusammen. Vor diesem Hintergrund sollten sich KMU unter anderem diese Fragen stellen und kontinuierlich oder in regelmässigen Abständen im Unternehmen diskutieren und reflektieren (siehe Box «Checkliste digitale Veränderung»).


Ausblick

Es ist zum aktuellen Zeitpunkt schwer, sich der voranschreitenden Digitalisierung zu entziehen. Zu welchen grundlegenden Veränderungen sie führen wird, zeigt sich aber erst im Vergleich mit den vorausgegangenen industriellen Revolutionen. Im zweiten Teil dieser Beitragsserie wird genauer aufgezeigt, welche Veränderungen wir heute schon als Folge der Digitalisierung auf individueller, organisationaler und Wettbewerbsebene beobachten können.

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