Digitalisierung & Transformation

Digitale Veränderungen (Teil 5 von 6)

So können digitale Disruptionen erkannt werden

Disruptionen gehören zu den am stärksten diskutierten Themen der Digitalisierung. Viele Unternehmen nehmen digitale Disruptionen nicht wahr oder ernst. Oft scheitern sie dann am eigenen Erfolg, obwohl sie vermeintlich «richtig» agieren. Doch lassen sich Disruptionen an konkreten Charakteristika erkennen. Der fünfte Beitrag der Serie zeigt, wie dies gelingt.
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«Disruptionen» scheint eines der Zauberworte der Digitalisierung zu sein. Der Begriff taucht oft mit Zusätzen wie «disruptive Innovation» oder «disruptive Technologie» auf. Dabei ist das Phänomen keineswegs neu. Tatsächlich hängen Disruptionen meist mit innovativen Technologien zusammen. Sie haben das Potenzial, grosse Veränderungen auszulösen, so wie die digitale Transformation (vergleiche hierzu den ersten Teil der Beitragsserie, Ausgabe 1–2/2019). In der Folge lassen sich immer wieder ähnliche Muster im Wettbewerb und Verhalten etablierter und junger Unternehmen beobachten.


Gefahr und Chance


Doch nicht alles, was neu, anders oder innovativ ist, ist auch disruptiv. Vielmehr weisen Disruptionen einige konkrete Eigenschaften auf, welche sie besonders interessant und besonders gefährlich machen. Vor allem für etablierte, erfolgreiche Unternehmen ist dies eine Herausforderung. Disruptionen können sie vermeintlich «über Nacht» obsolet machen. Was für Etablierte eine Gefahr ist, ist gleichzeitig für junge oder kleinere Unternehmen eine Chance.

Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf die Charakteristka von Disruptionen zu werfen. Denn diese Eigenschaften helfen dabei, das Phänomen frühzeitig ein­zuschätzen. Woran erkennen wir also digitale Disruptionen? Der Beitrag zeigt genauer auf, was unter dem Begriff verstanden wird, warum Disruptionen so gefährlich sind, was sie auszeichnet und von «herkömmlichen» Innovationen unterscheidet.


Erhaltend oder disruptiv?


Digitale Technologien können einige Türen öffnen, indem sie bereits existie­ren­de Prozesse vereinfachen. Unter­neh­men werden dann produktiver, effizienter, kostengünstiger. So ist es anhand von Sensoren möglich, genaue Daten zur Nutzung von Produkten durch den Kunden zu erhalten. Setzt der Kunde das Gerät wie vermutet ein? Gibt es Unterschiede zwischen den Kunden? Kann der Produkteinsatz verbessert werden? Solche Daten mussten zuvor aufwendig erfragt werden. Ob Kunden dann ehrlich oder sozial erwünscht antworten, war häufig unklar. Digitale Technologien wirken in diesem Fall als Erhalter oder «Enabler». Sie verbessern das Bestehende, aber sie stellen die bisherige Funktionsweise nicht infrage.

Digitale Technologien stehen gleichzeitig aber nicht nur dem eigenen Unternehmen zur Verfügung, sondern auch allen anderen Spielern. Ihr Einsatz ermöglicht es somit auch, neue, bisher unbekannte Lösungen auf den Markt zu bringen, die uns zunächst befremdlich erscheinen, obwohl sie etablierte Produkte ersetzen können. So wurden die frühen Personal Computer häufig nicht als Bedrohung der Schreibmaschine wahrgenommen, da man sie nicht «mitnehmen» kann. Das Entwicklungspotenzial der neuen Technologie wurde dabei übersehen. Denn die Hersteller waren offensichtlich in einer ganz anderen, und damit vermeintlich nicht re­levanten Branche und in einem ande­ren Wissensbereich zu Hause. Wie die Geschichte ausging, wissen wir heute. Aktuell lassen sich zahlreiche ähnliche Beispiele beobachten. Paypal wird so zum  Beispiel zum Konkurrenten der Retailbanken, Google wird zum Wettbewerber für Anbieter von Navigationssystemen.

Digitale Technologieanbieter treten in ehemals klar umrissene Wettbewerbsfelder und lösen im schlimmsten Fall einen paradigmatischen Wandel im Wettbewerb aus. Aus der Wahrnehmung etablierter Unternehmen heraus geschieht dies oft erstaunlich schnell und erstaunlich überraschend. Digitale Technologien haben dann das Potenzial, eine Disruption auszulösen (Christensen, 1997). Als «Disruption» wird dann eine Unterbrechung des Erwarteten oder eine Zerstörung des Bestehenden bezeichnet. Sie beinhaltet die Veränderung traditioneller Spielregeln im Wettbewerb, ebenso wie etablierter Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsmodelle.


Innovation und Disruption


Was sich dahinter verbirgt, wird am Beispiel der Musikbranche deutlich. (siehe zum Beispiel Ramge, 2015; Matzler et al., 2016). Im Jahr 1985 brachte der Elektrokonzern Philips die Compact Disk (CD) als innovatives Produkt auf den Markt. Neu waren dabei vor allem die deutlich verbesserte Qualität des Tons und die einfachere Bedienbarkeit des Tonträgers. Dies waren auch die wichtigsten Verkaufsargumente, die nach und nach zu einer Ablösung der Vinylschallplatte führten. Zwar war der Kauf eines neuen Abspielgerätes notwendig, darüber hinaus blieb aber vieles unver­ändert. Aus Sicht der Produzenten, der Verbraucher und des Handels wurden die gleichen Schritte zur Wertschöpfung vollzogen: Presswerke produzieren Tonträger, Musikverlage vermarkten sie, der stationäre Handel bringt sie unter die Käufer. Das bestehende Wertschöpfungssystem wurde nicht infrage gestellt. Die CD ist daher eine (erhaltende) Innovation, aber sie ist keine Disruption.

Knapp 20 Jahre später eröffnete Apple den digitalen iTunes Music Store auf einer digitalen Plattform. Im Jahr 2003 hatten Interessierte dort Zugang zu etwa 200 000 Songs. Für Apple war der Weg dorthin steinig. Etablierte Musikverlage waren zu keiner Zusammenarbeit bereit, sie stellten die lizenzierte Musik ihrer Künstler-Vertragspartner nicht zur Ver­fügung. Warum auch, schliesslich war Apple ein branchenfremdes Software- und Computerunternehmen und damit kein erst zu nehmender Spieler in der Musikindustrie.


Branchenfremdheit als Stärke


Doch gerade diese Branchenfremdheit kann auch eine Stärke sein. So war es für viele Musikverlage kaum vorstellbar, eine Rolle in der MP3-Welt einzunehmen. Einerseits waren sie erfolgreich in einem anderen Geschäft unterwegs, welches durch neue Aktivitäten nicht kanniba­lisiert werden sollte. Andererseits unterscheidet sich das MP3-Wertschöpfungssystem grundlegend vom Vinyl­­schall­platten- sowie CD-Geschäft, sodass eine Zusammenführung undenkbar schien.

Was war anders? Endverbraucher konnten MP3-Songs rund um die Uhr von zu Hause oder von einem anderen beliebigen Ort aus bequem von der digitalen Plattform herunterladen. Bezahlt wurde per Kreditkarte oder über ein anders Online-Bezahlsystem. Ein zeitaufwendiger Besuch im Detailhandel war nicht mehr notwendig. Zudem brauchte es auch keine Presswerke mehr, welche physische Tonträger produzieren. Doch für die Endverbraucher entstanden weitere entscheidende Vorteile, die es vorher nicht gab. So konnte nun ein einzelnes Lied kostengünstig erworben werden, während der Kauf einer CD den Käufer zwang, ein ganzes Songpaket zu erwerben, obwohl man eigentlich nur einen oder wenige Songs tatsächlich hören wollte.

Auch die Künstler profitierten vom neuen System, indem ihre Abhängigkeit von den Musikverlagen abnahm. Denn nun gab es durch die Apple-Plattform oder durch Youtube alternative Möglichkeiten, die eigene Arbeit mit einem vergleichsweise geringen Risiko einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Durch ihre ablehnende Haltung dem MP3-System gegenüber machten sich die Musikverlage selbst überflüssig, denn das gesamte Wertschöpfungssystem hat sich verändert.

Durch diese Veränderung werden etablierte Wertschöpfungsketten, Geschäftsmodelle und erfolgreiche Unternehmen grundlegend infrage gestellt, sie gleichen einer schöpferischen Zerstörung (Schumpeter, 1934). Dies ist nicht nur neu, sondern auch eine digitale Disruption, also weit mehr als eine Innovation. Es fällt nicht schwer, sich ähnliche Felder vor­zustellen, die durch digitale Verän­de­rungen drohen, obsolet zu werden, wie zum Beispiel die Rolle von Banken oder Autoherstellern und -zulieferern. So mancher Musikverlag hätte sich gewünscht, die Entwicklung besser vorausgesehen zu haben. Wie können wir also digitale Disruptionen erkennen?


Charakteristika der Disruption


Betrachtet man verschiedene Disruptionen, so lassen sich immer wieder ähnliche Charakteristika und wettbewerbsrelevante Verhaltensmuster der betroffenen Unternehmen beobachten. Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf diese Muster zu werfen, um das disruptive Potenzial digitaler Technologien für das eigene Unternehmen abschätzen zu können (siehe Box «Stichwort: Disruption» sowie Christensen, 1997; Christensen et al., 2016).

Viele etablierte Unternehmen konzentrieren sich auf einem bestehenden Markt darauf, ihre Leistung weiter zu verbessern. Oft können im oberen Marktsegment die grössten Margen abgeschöpft werden. Diese Orientierung kann darin münden, dass die Produkte ein Spektrum erreichen, welches den (Normal-)Käufern keinen weiteren Nutzen mehr bietet. Die Leistungen können mitunter sogar zu kompliziert werden («Overshooting»).

Dies ist heute beispielsweise bei High-End-Smartphones oder Kameras zu beobachten. Viele der angebotenen Funktionen kennen die Verbraucher gar nicht, sie zu erkunden braucht (zu) viel Zeit und Aufmerksamkeit. Dabei nehmen die Hersteller vor allem die Perspektive des Produzenten ein und fragen zu wenig nach dem durch den Käufer wahrgenommenen Nutzen. Disruptoren nutzen diese Entwicklung, indem eine neue Leistung auf den Markt gebracht wird, die am unteren Ende des Marktes ansetzt oder einen ganz neuen Markt begründet. Sie ist also einfacher, weniger leistungsstark und dadurch auch preisgünstiger. Der tiefere Preis ist attraktiv für alle Kunden, die sich das hochpreisige High-End-Produkt nicht leisten können oder dessen Funktionen gar nicht brauchen.

Doch Disruptionen können noch mehr. Denn sie bauen meist auf neuen Technologien auf. Sie bringen daher zusätzliche neue Funktionen oder neuen Nutzen mit sich, welche man zuvor nicht herstellen konnte. So lassen sich MP3-Songs oder digitale Fotos problemlos auf dem Computer speichern, was mit den analogen Vorgängern nicht möglich war. Disruptionen sind also stets nutzerorientiert, sie nehmen die Perspektive des Nutzers und Käufers ein. Und dieser dankt es, indem ein solches Produkt dem bestehenden vorgezogen wird. Die Leistungen machen einen echten Unterschied zu den vorherigen Produkten, sie führen nicht nur das Bestehende weiter.

Die Kombination aus tiefem Preis und neuer Technologie ist eines der zentralen Erkennungsmerkmale von Disruptionen. Ist also ein starker Preis- und Kostenverfall bei innovativen Technologien zu beobachten, so werden deren Verbreitung, ein damit verbundener Systemwechsel und somit eine Disruption wahrscheinlicher. Ein solcher Preisverfall lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt unter an­derem für Industrieroboter, Drohnen, die additive Fertigung oder Sensoren feststellen (World Economic Forum, 2016).

Da Disruptionen auf neuen Technolo­gien mit neuen Funktionen aufbauen, baut auch die Logik des Wettbewerbs, also die Wertkette, das Geschäftsmodell, oder auch die Logik der Nutzung auf einem neuen System auf. Sobald eine kritische Masse (Marktanteil) erreicht ist, etabliert sich ein neuer Standard. Das alte System wird durch das neue abgelöst und verschwindet vom Markt. Etablierte Unternehmen werden dann schlagartig obsolet. Dann stellt sich die Frage, warum niemand die Entwicklung bemerkt hat und die Etablierten keine Gegenmassnahmen ergriffen haben. Auch das ist ein Charakteristikum disruptiver Technologien.

Fazit


Abbildung 1 fasst die genannten Charakteristika digitaler Disruptionen zusammen. Vor diesem Hintergrund sollten sich KMU unter anderem diese Fragen stellen und kontinuierlich oder in regelmässigen Abständen im Unternehmen diskutieren und reflektieren.


Ausblick


(Digitale) Disruptionen bleiben eine gros­se Herausforderung für etablierte, erfolgreiche Unternehmen. Dies einerseits, da sie ausserhalb des Wahrnehmungsfeldes dieser Unternehmen liegen. Andererseits, da sie zu schnellen, aber radikalen Umbrüchen ganzer Branchen führen können. Ausser den beschrie­­benen Charakteristika digitaler Disrup­tionen stehen etablierten Unternehmen weitere Wege aus dem Dilemma der Disruption zur Verfügung. Welche dies sind, wird im sechsten Teil dieser Beitrags­-serie aufgezeigt.

Porträt