Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf die Charakteristka von Disruptionen zu werfen. Denn diese Eigenschaften helfen dabei, das Phänomen frühzeitig einzuschätzen. Woran erkennen wir also digitale Disruptionen? Der Beitrag zeigt genauer auf, was unter dem Begriff verstanden wird, warum Disruptionen so gefährlich sind, was sie auszeichnet und von «herkömmlichen» Innovationen unterscheidet.
Erhaltend oder disruptiv?
Digitale Technologien können einige Türen öffnen, indem sie bereits existierende Prozesse vereinfachen. Unternehmen werden dann produktiver, effizienter, kostengünstiger. So ist es anhand von Sensoren möglich, genaue Daten zur Nutzung von Produkten durch den Kunden zu erhalten. Setzt der Kunde das Gerät wie vermutet ein? Gibt es Unterschiede zwischen den Kunden? Kann der Produkteinsatz verbessert werden? Solche Daten mussten zuvor aufwendig erfragt werden. Ob Kunden dann ehrlich oder sozial erwünscht antworten, war häufig unklar. Digitale Technologien wirken in diesem Fall als Erhalter oder «Enabler». Sie verbessern das Bestehende, aber sie stellen die bisherige Funktionsweise nicht infrage.
Digitale Technologien stehen gleichzeitig aber nicht nur dem eigenen Unternehmen zur Verfügung, sondern auch allen anderen Spielern. Ihr Einsatz ermöglicht es somit auch, neue, bisher unbekannte Lösungen auf den Markt zu bringen, die uns zunächst befremdlich erscheinen, obwohl sie etablierte Produkte ersetzen können. So wurden die frühen Personal Computer häufig nicht als Bedrohung der Schreibmaschine wahrgenommen, da man sie nicht «mitnehmen» kann. Das Entwicklungspotenzial der neuen Technologie wurde dabei übersehen. Denn die Hersteller waren offensichtlich in einer ganz anderen, und damit vermeintlich nicht relevanten Branche und in einem anderen Wissensbereich zu Hause. Wie die Geschichte ausging, wissen wir heute. Aktuell lassen sich zahlreiche ähnliche Beispiele beobachten. Paypal wird so zum Beispiel zum Konkurrenten der Retailbanken, Google wird zum Wettbewerber für Anbieter von Navigationssystemen.
Digitale Technologieanbieter treten in ehemals klar umrissene Wettbewerbsfelder und lösen im schlimmsten Fall einen paradigmatischen Wandel im Wettbewerb aus. Aus der Wahrnehmung etablierter Unternehmen heraus geschieht dies oft erstaunlich schnell und erstaunlich überraschend. Digitale Technologien haben dann das Potenzial, eine Disruption auszulösen (Christensen, 1997). Als «Disruption» wird dann eine Unterbrechung des Erwarteten oder eine Zerstörung des Bestehenden bezeichnet. Sie beinhaltet die Veränderung traditioneller Spielregeln im Wettbewerb, ebenso wie etablierter Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsmodelle.
Innovation und Disruption
Was sich dahinter verbirgt, wird am Beispiel der Musikbranche deutlich. (siehe zum Beispiel Ramge, 2015; Matzler et al., 2016). Im Jahr 1985 brachte der Elektrokonzern Philips die Compact Disk (CD) als innovatives Produkt auf den Markt. Neu waren dabei vor allem die deutlich verbesserte Qualität des Tons und die einfachere Bedienbarkeit des Tonträgers. Dies waren auch die wichtigsten Verkaufsargumente, die nach und nach zu einer Ablösung der Vinylschallplatte führten. Zwar war der Kauf eines neuen Abspielgerätes notwendig, darüber hinaus blieb aber vieles unverändert. Aus Sicht der Produzenten, der Verbraucher und des Handels wurden die gleichen Schritte zur Wertschöpfung vollzogen: Presswerke produzieren Tonträger, Musikverlage vermarkten sie, der stationäre Handel bringt sie unter die Käufer. Das bestehende Wertschöpfungssystem wurde nicht infrage gestellt. Die CD ist daher eine (erhaltende) Innovation, aber sie ist keine Disruption.
Knapp 20 Jahre später eröffnete Apple den digitalen iTunes Music Store auf einer digitalen Plattform. Im Jahr 2003 hatten Interessierte dort Zugang zu etwa 200 000 Songs. Für Apple war der Weg dorthin steinig. Etablierte Musikverlage waren zu keiner Zusammenarbeit bereit, sie stellten die lizenzierte Musik ihrer Künstler-Vertragspartner nicht zur Verfügung. Warum auch, schliesslich war Apple ein branchenfremdes Software- und Computerunternehmen und damit kein erst zu nehmender Spieler in der Musikindustrie.
Branchenfremdheit als Stärke
Doch gerade diese Branchenfremdheit kann auch eine Stärke sein. So war es für viele Musikverlage kaum vorstellbar, eine Rolle in der MP3-Welt einzunehmen. Einerseits waren sie erfolgreich in einem anderen Geschäft unterwegs, welches durch neue Aktivitäten nicht kannibalisiert werden sollte. Andererseits unterscheidet sich das MP3-Wertschöpfungssystem grundlegend vom Vinylschallplatten- sowie CD-Geschäft, sodass eine Zusammenführung undenkbar schien.