Leider ist es kein Einzelfall: Technologie- und marktführende Unternehmen haben die riskante Neigung, sich darauf zu verlassen, was ihnen im analogen Geschäftsleben Erfolg einfuhr. Sie schweben hoch hinaus – und entfernt von der Realität und den wahren Marktgegebenheiten. Das macht den Weg frei für digitale Neueinsteiger, die aus dem Nichts auftauchen und mir nichts, dir nichts den Markt mit digitalen Innovationen kapern und alteingesessenen Konkurrenten eine lange Nase zeigen.
Überzeugte Technologieführerschaft versetzt Unternehmen eben in einen pubertären Erfolgsrausch, der die Bodenhaftung lockert. Und dann folgt der «Hangover-Moment»: Das Büro ist völlig verwüstet. Ein Huhn läuft gackernd über den Flur und im Vorzimmer sitzt der Tiger. Das erinnert an die verkatert wirkenden Männer mit Filmriss im US-Spielfilm «Hangover».
Anfällige Marktführer
Marktführer haben die Werte und Leitlinien vollständig aufgesogen und verinnerlicht, die sie in diese Spitzenposition gehievt haben. Das vermeintliche Erfolgsrezept: Diese überzeugenden Werte weiter ausbauen. Noch höher. Noch schneller. Noch leistungsfähiger. Der Erfolg wirkt wie ein Betäubungsmittel, das in einen Dämmerzustand führt.
Im Halbschlaf nehmen Marktführer ihre Umwelt nur in leicht gedämpfter Form wahr. Ein bisschen so, wie in Watte gepackt. Tief in ihrem Erfolgsdenken verwurzelte Unternehmen unterschätzen und verkennen dabei disruptive Innovationen und erkennen sich abzeichnende Tendenzen nicht oder zu spät. Bis sich die warnenden Signale durch den Wattebausch hindurchgearbeitet haben, ist es zu spät für eine adäquate Reaktion.
Disruption zielt klar und gnadenlos auf Umbruch – innerhalb eines gesamten Marktsegments oder einer ganzen Branche. Märkte wachsen aus dem Nichts, immer und immer wieder, durch die Chuzpe und Agilität von Einsteiger-Unternehmen. Die Etablierten lassen sich überrumpeln wider bessere Vernunft. Sie konzentrieren sich darauf, ihre etablierten Technologien und Werte stetig zu verbessern, um sich im hart umkämpften Markt mit differenzierten Lösungen abzuheben.
Irgendwann ist eine Technologie aber so ausgereizt, dass der hohe Entwicklungsaufwand in keinem Aufwand steht zum Mehrwert, den der Kunde empfindet. Oder welcher Privatfotograf braucht heute wirklich die üblichen 20 Megapixel? Und das ist das Problem. Der Punkt ist erreicht, an dem ein disruptiver Urknall droht. Was auf Wolke sieben schwebt, kann vom Kunden oft nicht mehr wahrgenommen und goutiert werden.
Wer zu weit weg von seinen Kunden agiert, wird irgendwann zwangsläufig und äusserst unsanft auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeworfen. Der berüchtigte «Hangover-Moment» tritt ein. Manche versuchen, sich in letzter Sekunde in eine Aufwärtsmigration zu retten, um auf profitableren Märkten nach Premium-Kunden zu fischen. Dort allerdings befinden sie sich in einem luftleeren Raum, in dem man Produkte vorfindet, die von den Kunden nicht mehr gewünscht werden.
Clayton M. Christensen beschrieb dies erstmals in seinem Bestseller «The Innovator’s Dilemma» (erschienen 1997 im Verlag Harvard Business Press). Noch heute ein grundsätzliches Werk mit hohem Einfluss auf Managementforschung und Führungspraxis.