Wer weiss, wie die Geschichte der Luftfahrt verlaufen wäre, hätte nicht Joseph Montgolfier gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Funkenflug in seinem Kamin beobachtet. Aufgefallen war ihm dabei noch ein weiteres entscheidendes Detail: Seine Frau hatte ihren Unterrock zum Trocknen über den Ofen gehängt, und Montgolfier sah, wie der sich durch die aufsteigende warme Luft bewegte und aufbauschte.
Pioniergeist
Eigentlich waren er und sein Bruder Étienne Sprösslinge einer Papierfabrikantenfamilie und arbeiteten im Familienbetrieb, der bereits ungefähr 200 Jahre existierte. Ihre Eltern hatten sechzehn Kinder und die beiden Brüder gehörten als zwölftes und fünfzehntes zu den Spätgeborenen in den Jahren 1740 (Joseph) und 1745 (Étienne). Beide waren in Naturwissenschaften ausgebildet und hegten abseits des Papiergeschäfts grosse Neugier für die Zusammenhänge in der Natur. Einen ersten Selbstversuch unternahm Joseph im Jahr 1777, als er vom Dach des elterlichen Hauses sprang und wohlbehalten auf der Erde landete.
1783 wurde schliesslich zum Jahr der Sensationen: Hatten die Brüder im Dezember des Vorjahres und im Juni darauf im Beisein des Königs noch leere Ballons aufsteigen lassen, folgten im September ein erfolgreicher Flug in der sogenannten Montgolfiere mit Tieren (Hammel, Ente und Hahn) und im Oktober, November und Dezember drei erste bemannte Flüge. Doch auch wenn der letzte dieser Flüge vom heftigsten Montgolfier-Konkurrenten Jacques Alexandre César Charles in einem überlegenen Wasserstoffballon gemeistert wurde: Die Brüder Joseph und Étienne blieben die Wegbereiter eines Zeitalters, das uns heutzutage mit Hyperschallflügen und privaten Weltraumtrips in Atem hält.
Hürden der Transformation
Wie das Beispiel der Gebrüder Montgolfier, aber auch viele andere Pionierbeispiele zeigen, sind Pioniere durch einen unbändigen Schöpferwillen gekennzeichnet. Sie wollen Dinge schaffen, die sich signifikant vom bisher Erreichten unterscheiden. Mit den Worten des 21. Jahrhunderts: Sie sind disruptiv und geben sich mit der Optimierung des Status quo nicht zufrieden. Nach den Erfahrungen der Geschichte sind die erfolgreichsten Pioniere aber keine realitätsfernen Fantasten, sondern konkrete Träumer. Ihre Ziele sind überaus herausfordernd, aber mit den verfügbaren Bordmitteln der Gegenwart, mit Tatkraft, Gemeinsinn und Einfallsreichtum zu realisieren.
Genau das, was Pioniere immer schon ausmachte und heute noch auszeichnet, trifft auch auf Unternehmen zu, die vor einer agilen Transformation stehen. Zu Beginn mag der angestrebte Zielzustand noch wie ein Wolkenkuckucksheim aussehen. Denn wie soll das überhaupt gehen? Keine Führungslegitimation über hierarchische Macht mehr? In Projekten tagesaktuell auf Sicht fahren, statt mit Plänen und Meilensteinen heute schon zu wissen, was in drei Monaten erreicht und neu getan werden muss? Mitarbeitende, die sich im Team und als Einzelne innerhalb grosszügiger Leitplanken selbst organisieren, statt auf einem starren Gleis festgesetzte Ziele nach einem vorgefertigten Fahrplan anzusteuern? Situative Führung, in der die Person mit der besten Expertise Takt und Ton angibt, auch wenn eine Führungskraft im Raum ist?
Angesichts der mentalen und emotionalen Transformationen in den Köpfen scheint der Umgang mit agilen Tools und Techniken noch die geringere Hürde darzustellen. Für sie ist lediglich neues Lernen erforderlich. Liesse sich das notwendige Mindset mit der zugehörigen Veränderungsbereitschaft willentlich ein- und ausschalten, könnte Agilität einfach angeordnet und umgesetzt werden. Weil das jedoch nicht funktioniert, braucht es einen Prozess, in dem gleichermassen Neues gelernt und das Gehirn im positiven Sinne umprogrammiert wird. Das Ziel: aus Menschen, die ihren gewohnten Arbeitsstil und die zugehörige Kultur als eine zwar ungemütliche, aber aushaltbare Situation verteidigen, Abenteurer und Pioniere zu machen.
Ein neues Work-Setting
Gelingen kann dies nur, wenn neben dem Aufbruch in ein gänzlich neues Work-Setting dennoch ein Rest Sicherheit verbleibt. Schrittweises Einführen der Massnahmen im Gesamtprojekt und das emotionale Mitnehmen der Mitarbeitenden sind nicht nur günstige Voraussetzungen. Sie sind notwendig, um die Menschen nicht zu überfordern und damit Angst durch die Neugier ersetzt wird, die in allen Beteiligten geweckt werden soll.
Auf dem Weg des Wandels selbst kommt es auf beständiges Fragen und Hinterfragen ebenso an wie auf Mut, kreatives, vorurteilsfreies Denken und Umsetzungswillen. Hier tut zunächst Orientierung not, die sich nach und nach zur Trittsicherheit auf immer vertrauter werdendem Terrain verdichtet. Auf fünf Prinzipien ist dabei Augenmerk zu legen:
Iteration statt Perfektion
Agilität löst sich vom Zwang zur Perfektion und arbeitet mit Prototypen, mit Testballons für erste Erfahrungen. Experimente sind wichtig, um aus Fehlern zu lernen und nicht zu lange in Sackgassen unterwegs zu sein. Warum den Kunden nicht schon früh befragen, wie er ein geplantes Produkt findet, statt erst nach unendlich intensiver Arbeit zu erfahren, dass alle Perfektionsmühen vergeblich waren? Die experimentelle Spirale zum Ziel lautet: anfangen, zyklisches Testen, verbessern, voranschreiten und so weiter.
Vorbereiten statt überrennen
Mitarbeiter und Führungskräfte müssen für die Transformation fit werden. Vorbereitende Qualifikation sensibilisiert für die künftigen Aufgaben, lässt Hindernisse und Fallstricke früher erkennen und wärmt das kalte Wasser der Transformation schon mal vor. Methoden sind das Studium relevanter Publikationen, spezielle Trainings und der Austausch mit anderen Unternehmen. Wichtig, dieses Lernen zur Dauereinrichtung zu machen.
Aussenperspektive statt Nabelschau
Tiefe Verbundenheit mit der eigenen Organisation führt leicht zu gewisser Betriebsblindheit. Impulse von aussen helfen bei einem klaren Blick auf die Realität und mögliche Perspektiven. Als Unterstützer eignen sich Beratungsunternehmen ebenso wie ausgewählte Kunden, «Freunde des Hauses» oder im Netzwerk verbundene Unternehmen.
Gemeinsamkeit statt Durchregieren
Eine Transformation über die Köpfe der Menschen hinweg ist mindestens mühsam, wenn nicht aussichtslos. Bindet man das Team frühzeitig ein, motiviert das so bewiesene Vertrauen und lindert Ängste, weil es zeigt, dass man auf die Menschen setzt, statt sie in der Transformation abzukoppeln. Grössere und komplexere Organisationen starten mit der Abstimmung der Managementteams, um dann die Mitarbeiter zu gewinnen.
Individualität statt Blaupause
Der Fünfjahresplan und eine Blaupause zur agilen Transformation existiert nicht und würde den individuellen Anforderungen von Organisationen kaum gerecht. Deshalb muss jedes Unternehmen den Weg finden, der am besten zur eigenen Situation passt. Dieser Weg wird regelmässig vorurteilsfrei und schrittweise neu überprüft, um ihn flexibel anpassen zu können.