(Digitale) Disruptionen liegen oft ausserhalb des Wahrnehmungsbereichs etablierter Unternehmen. Da sie sich auf den unteren Teil des Marktes konzentrieren, der von den etablierten nicht (mehr) bedient wird, nehmen diese sie nicht wahr oder sie nehmen sie nicht ernst. Disruptionen werden von etablierten Unternehmen dann oft nicht als ebenbürtige Wettbewerber kategorisiert, sie sind zu neu und zu anders.
Nichts zu verlieren
Dies wurde im fünften Teil der Beitragsserie am Beispiel der Musikindustrie gezeigt. Da der untere Teil des Marktes (Nutzer günstiger Produkte oder Nicht-Nutzer) nur tiefe Margen ermöglicht, bearbeiten ihn viele etablierte Unternehmen nicht. Das gilt vor allem im Zusammenhang mit neuen Technologien, die hohe, unsichere Investitionen erfordern, aber deren Erfolg unsicher ist. Für etablierte Unternehmen ist es lohnender, scheinbar «sichere» Erträge am oberen Ende des Marktes abzuschöpfen und Veränderungen auszublenden (Christensen, 1997; Christensen et al., 2016).
Junge Unternehmen haben auf einem solchen Markt mehr zu gewinnen als zu verlieren. Es ist noch nichts aus der Vergangenheit vorhanden, auf das sie im Falle des Scheiterns verzichten müssten. Sie sind daher eher bereit, das Risiko neuer Technologien zu tragen. Junge Unternehmen sind noch nicht mit der bestehenden Branchenlogik belastet, sie hinterfragen das, was für etablierte Unternehmen oft selbstverständlich ist. Das ist ein guter Ausgangspunkt, um zu neuen Lösungen zu kommen und diese voranzutreiben.
Opfer des eigenen Erfolgs
Etablierte Unternehmen werden dann Opfer ihres eigenen Erfolges. Denn aus ihrer Perspektive tauchen Disruptionen quasi aus dem Hinterhalt auf. Sie scheitern, obwohl sie aus ihrer erprobten Logik heraus alles richtig gemacht haben. Zwischenzeitlich hat sich jedoch die Wettbewerbslogik verändert, sodass sie ebenfalls scheitern, weil sie alles richtig gemacht haben. Denn die bis anhin vertraute Logik ist inzwischen nicht mehr gültig und damit falsch. Etablierte
Unternehmen befinden sich somit in einem Dilemma.
Vor diesem Hintergrund lässt sich rückblickend auch erklären, wie ehemals erfolgreiche, grosse Unternehmen wie Kodak oder Nokia scheitern konnten. Es gelang ihnen nicht, die technologischen Entwicklungen ihrer Zeit in ihre etablierte Gedankenwelt einzuordnen. Gerade der Fall von Kodak ist dabei besonders dramatisch. Das Unternehmen gilt als Erfinder der Digitalfotografie und hat es zugleich nicht geschafft, das eigene System von der analogen zur digitalen Technologie weiterzuentwickeln. Kodak wurde schliesslich von einer neuen Wettbewerbslogik überholt.
Technologien mit Potenzial
Es zeigt sich, dass strategisches Denken und Handeln untrennbar mit technologischen Entwicklungen verbunden sind. Eine kontinuierliche Beobachtung und Einschätzung innovativer Technologien ist daher für alle Unternehmen unverzichtbar. Ein möglicher Weg aus dem Dilemma der digitalen Disruption besteht darin, den Dialog mit Experten zu suchen, persönlich oder auch über frei verfügbare Informationen.
Thinktanks und zum Teil auch Beratungsunternehmen kommen dabei zu sehr ähnlichen Ergebnissen, welche digitale Technologien ein grosses disruptives Potenzial aufweisen. Im Mittelpunkt stehen dabei unter anderem folgende Trends (siehe zum Beispiel Gartner Group, 2016, 2018; Manyika et al., 2013 für McKinsey and Company; World Economic Forum, 2016).