Menschen sind offen und bereit, technische Möglichkeiten oder Neuerungen anzunehmen, mit deren Hilfe sie effizienter arbeiten können. Diesen Aspekt der Digitalisierung wissen wir zu schätzen. Unsere Handlungsspielräume erweitern sich. Aufgaben können beispielsweise auf Distanz – wie im obigen Beispiel im Homeoffice – erledigt werden. Dokumente brauchen nicht mehr ausgedruckt, unterschrieben und eingescannt zu werden. Dies spart Zeit und andere Ressourcen.
Letztlich verschafft uns die digitale Technik Freiraum. Diesen Freiraum können wir nutzen, um uns auf unsere ureigenen Fähigkeiten zu konzentrieren: Koordinierungsaufgaben, Kreativität und im besonderen Masse auf Co-Kreativität.
Was Digitalisierung kann
Digitalisierung bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als analoge Informationen in digitale Formate zu überführen. Und dies ist kein neues Phänomen. Bereits zu Beginn der 1980er-Jahre, als die ersten Bürocomputer eingeführt wurden, fand das Erfassen von Informationen in digitaler Form in «grösserem» Massstab statt. Seitdem haben sich die Möglichkeiten der Digitalisierung vervielfältigt. So lässt sich dadurch die Zusammenarbeit effektiver gestalten, Wissenstransfer findet schneller und besser statt. Geschäftsprozesse können automatisiert und Arbeitsprozesse sowie deren Ergebnisse transparent gemacht werden.
Transparenz in diesem Sinne kann beispielsweise bedeuten, dass Arbeitsergebnisse der einzelnen Mitarbeitenden im Produktionsbereich auf grossen Monitoren jederzeit einsehbar sind. Die Motivation der Mitarbeitenden soll so erhöht und Fehlerquoten sollen reduziert werden. Es wird oftmals argumentiert, dass es in der Natur des Menschen liege, sich mit anderen zu vergleichen. In einem gewissen Rahmen ist dies auch durchaus richtig – Echtzeitproduktionszahlen sind nicht per se schlecht. Objektive Produktionszahlen können auch eine solide Basis für ein Mitarbeitergespräch bilden. Der entscheidende Parameter ist jedoch der Umgang damit.
Letztlich kann die Digitalisierung zur Totalvermessung der Mitarbeitenden verwendet werden. Und es gilt auch zu fragen, ob sich Führungskräfte, die derartige Massnahmen der Vermessung und damit der Überwachung der Mitarbeitenden befürworten, auch selbst bereit sind, ihre Leistungsdaten für jeden im Unternehmen jederzeit sichtbar zu machen. Wohl kaum.
Was Menschen brauchen
Insgesamt ist fraglich, ob die beabsichtigten positiven Effekte der Digitalisierung auf die genannte Weise wirklich erzielt werden können. Denn eines ist klar: Ihre wahren Leistungspotenziale bringen Menschen unter den genannten Bedingungen sicherlich nicht zur Entfaltung. Dazu ist mehr notwendig: Es geht darum, den Segen einer Technik wie der Digitalisierung zu erkennen und zum Nutzen eines grösseren Ganzen einzusetzen. Menschen merken sehr schnell, wenn sich dieser Nutzen jedoch auf nur einige Wenige im Unternehmen reduziert.
Menschen sind emotionale Wesen. Als solche wollen sie auch ins Unternehmens geschehen eingebunden werden. Sie wollen emotional miteinander verbunden werden. Sie wollen leisten. Und dies am besten zusammen mit ihren Arbeitskollegen. Sie benötigen einen grösseren Rahmen für ihr Wirken. Sie wollen Sinn in ihren jeweiligen Tätigkeiten sehen. Sie wollen einen Beitrag zum grösseren Ganzen leisten. All dies ist jedoch genau das Gegenteil von dem, was mit der Totalvermessung der Mitarbeitenden erzielt wird.
Es liegt in der Verantwortung der Führungskräfte, den grösseren Bezugsrahmen herzustellen. Ihnen obliegt die Aufgabe, jedem einzelnen der Mitarbeitenden zu vermitteln, was der individuelle Beitrag zum grossen Ganzen darstellt.
Die Frage lautet: Wie schaffen es Führungskräfte, dieser Verantwortung gerecht zu werden? Das notwendige Wissen und die notwendigen Kenntnisse werden weder in Seminaren noch in der täglichen Praxis vermittelt.
Viele Führungskräfte werden nach wie vor «ins kalte Wasser geworfen» und werden dort allein gelassen. Führungskräfte werden oftmals zu solchen befördert, ohne dass sie die dafür nötige Qualifikation hätten. Deshalb machen sie auch in der Führungsposition das, was sie am besten können – und das ist meistens «nur» das, was sie aus ihrer alten, untergeordneten Position kennen.
Menschen zu führen, ist jedoch meist etwas ganz anderes. Dazu ist es zunächst notwendig, sich selbst zu führen. Für mich hat es sich als hilfreich erwiesen, mir so oft wie möglich Feedback einzuholen, zu reflektieren, Veränderungen durchzuführen und wieder um Feedback zu bitten.
Ohne diese Erfahrungsschleifen, ohne die notwendige Führungskompetenz muss die Digitalisierung oftmals als schlechter Ersatz herhalten: Dann tritt an die Stelle von Führungskompetenz eben die Vermessung der Mitarbeitenden.