Digitalisierung & Transformation

Virtuelle Simulation

Der digitale Zwilling im Gesundheitswesen

Digitale Zwillinge haben das Potenzial, unsere gesamte Gesundheitsbranche zu revolutionieren – sowohl aufseiten der Anbieter, Kostenträger und Patienten als auch der Pharma­unternehmen. Wo speziell KMU Nutzen aus dieser neuen Technologie ziehen können, zeigt folgender Beitrag.
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Der Satz «Houston, wir haben ein Problem» ist heute längst Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs. Weniger bekannt ist ­jedoch eine Technik, die von der Apollo-13-Mission der NASA inspiriert wurde und insbesondere das Gesundheitswesen beeinflussen könnte. Im April 1970, rund 340 000 Kilometer von der Erde entfernt, bangten die Astronauten der Apollo 13 um ihr Leben, nachdem ein Sauerstofftank explodiert war. Glücklicherweise setzte die NASA bei der Vorbereitung auf die Mission mehrere Simulatoren ein, um die Besatzung auf genau solche Fälle vorzubereiten. Als dann das SOS einging, wandte sich die Missionskontrolle an die Simulatoren, um die Bordbedingungen nachzustellen und eine Lösung zu finden, um die Astronauten sicher nach Hause zu bringen. Die NASA-Ausrüstung war damals zwar nicht digital – Technologen setzen das Konzept des Simulators heute aber dennoch in neuen Anwendungsmöglichkeiten um.

Anwendungen in der Medizin

Bei digitalen Zwillingen handelt es sich grundsätzlich um hochpräzise und integrierte Modelle, die die Leistung (und ­potenzielle Fehler) des ihnen zugrunde liegenden Systems simulieren können. So können sie in verschiedensten Gebieten Anwendung finden, unter anderem auch in der Medizin. Während KI in der Me­dizin schon längst Realität ist – beispielsweise in der Diagnostik, in Multi­organ-Überwachungssystemen auf Intensivstationen oder in Frühwarnsystemen für Epilepsiepatienten – können digitale Zwillinge weiter dazu beitragen, dass das Gesundheitswesen erhebliche Fortschritte auf dem Weg in eine digitale ­Zukunft macht.

Vielfältiger Nutzen

So können sie auf unsere medizinischen Informationen (wie Blutgruppe, Augenfarbe, Grösse, Gewicht, Röntgenaufnahmen, MRT-Ergebnisse und so weiter) und nicht-medizinischen Informationen (wie Lifestyle-Daten aus Fitness-Apps oder ­Telefon- und Social-Media-Nutzung) zurückgreifen, um ein digitales Abbild unserer Gesundheit und unseres Verhaltens zu erstellen. Welche Vorteile ergeben sich daraus?

Nutzen für Patienten, Ärzte und Pharmaunternehmen

Das Potenzial dieser Modelle ist enorm. Die Erfahrungen von Patienten mit akuten und chronischen Erkrankungen können deutlich verbessert werden, indem der individuelle digitale Zwilling mit ­Daten von Wearables aktualisiert wird. Dadurch können medizinische Notfälle wie Unterzuckerungen oder Herzinfarkte vorhergesagt und Pflegepersonen benachrichtigt werden.

Für Ärzte könnten digitale Zwillinge präzisere Behandlungen bedeuten: Durch die Kombination eines digitalen Körpers mit virtueller Realität könnte ein solcher dreidimensionaler Zwilling geschaffen werden, an dem Studenten chirurgische Eingriffe üben können. Auch erfahrene Chirurgen könnten diese Zwillinge nutzen, um ihre Technik weiter zu verfeinern oder alternative Strategien für komplexe und riskante Verfahren zu testen.

Auch nach einem Eingriff können sie in den Einsatz kommen: Die Komplikations- und Sterblichkeitsraten sind in den Monaten nach einer Operation hoch. Ein prognostisches Scoring, das unter an­derem auf dem Body-Mass-Index, bekannten Medikamentenunverträglichkeiten und Begleiterkrankungen basiert, könnte jedoch helfen, die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit vorherzusagen – und damit Risiken zu minimieren. Über das prognostische Scoring hinaus könnten ­digitale Zwillinge im Gesundheitswesen dabei helfen, Operationspläne und die postoperative Versorgung zu bestimmen.

Im Pharmabereich können digitale Zwillinge dabei helfen, dass Pharmaunternehmen neue Medikamente schneller auf den Markt bringen könnten. Klinische Studien benötigen einige tausend Pa­tienten und der Abschluss kann zum Teil Jahre dauern. Dies könnte durch ­digitale Zwillinge beschleunigt werden. ­Menschen wären nämlich möglicherweise eher dazu bereit, mit ihrem «di­gitalen Ich» an solchen Studien teilzunehmen.

Nutzen für KMU

Kleine und mittelgrosse Unternehmen im Gesundheitssektor, aber sehr wohl auch in anderen Industrien, können von der Nutzung digitaler Zwillinge ebenso profitieren. Insbesondere im Bereich der personalisierten Medizin könnten KMU, wie Arztpraxen oder Gesundheitsdienstleister, durch den Einsatz digitaler Zwillinge präzisere Diagnosen und Behandlungspläne erstellen. Dies führt zu optimierten Abläufen, Kosteneinsparungen und einer höheren Zufriedenheit der Patienten. Gleichzeitig bieten digitale Zwillinge Pharmaunternehmen und Medizintechnik-Herstellern die Möglichkeit, ihre Produkte und Therapien effizienter zu ent­wickeln und zu testen.

Im Rahmen seiner Tätigkeit arbeitet ­Kyndryl mit diversen Gesundheitsorgani­sationen und Pharmaunternehmen zu­sammen, die sehr strenge Anforderungen erfüllen müssen. Bei der Entwicklung und Herstellung neuer Produkte wie Nahrungsergänzungsmittel oder Arzneimittel werden Maschinen eingesetzt und bei Problemen kann es passieren, dass ganze Produktchargen entsorgt werden müssen. Das Risiko für den Patienten ist einfach zu hoch. Um dies zu vermeiden, ­wurden digitale Zwillingsmodelle erstellt, wodurch höhere Erträge erzielt und die Produktionskosten gesenkt wurden und die Leistung gesteigert werden konnte, was letztlich eine bessere Versorgung der Patienten bedeutet.

Auch Versicherungsunternehmen stützen sich auf Hunderte von Indikatoren, um Risiken zu berechnen und die Prämien für ihre Versicherungen festzulegen. Mit digitalen Zwillingen könnten sie sich auf Hochrisikobereiche konzentrieren, Studien finanzieren, um Lösungen zur Senkung dieser Risiken zu finden, und sich für eine breite Einführung der ­digitalen Zwillinge einsetzen, um Risiken besser einzuschätzen und Prämien passgenauer festzulegen.

Im Kontext der laufend höher werdenden Krankenkassenprämien wäre ein ­Ansatz, dass Krankenversicherer konkrete Möglichkeiten identifizieren und fördern, um deren Versicherte präventiv gesund zu halten und vor allem um Krankheiten im Frühstadium zu erkennen und so Kosten einzusparen. Das heutige Modell bietet viel Potenzial, enorme Kosten zu verhindern.

Jenseits der Gesundheitsbranche

Wenn wir nun aus dem Gesundheits­sektor rauszoomen, stellen wir fest, dass das Phänomen «Digitaler Zwilling» in verschiedensten Branchen Anwendung findet. So zum Beispiel auch in der Auto­mobilindustrie: In der Produktionsstras­se für ein fertiges Auto wirken Firmen mit, die zum Teil Kleinstteile liefern ­müssen. Was ist, wenn schon nur einer davon – wie es zum Beispiel in der Co­ronapandemie gut sichtbar war – nicht mehr liefern kann? Was, wenn gar mehrere Lieferanten ausfallen? Welche Auswirkungen hat das, und wie weitreichend sind die Konsequenzen? Wie kann man die eigene Produktivität steigern, die Time-to-Market verkürzen, Qualitätsproblemen auf den Grund gehen? 

Auch da können mithilfe des digitalen Zwillings verschiedene Szenarien durchgespielt und anschliessend entsprechende Massnahmen getroffen werden.

Was zu beachten ist 

Heutzutage ist es oftmals so, dass Datensysteme in Unternehmen spezialisiert sind. Entsprechend sind diese Daten in Silos gespeichert, unterteilt beispielsweise in Finanzen, Mitarbeiter, Produktion oder Zulieferer. Essenziell dafür, dass der digitale Zwilling Simulationen zuver­lässig fahren kann, ist einerseits die hohe Qualität der eigenen Daten sowie die der Datenzulieferer und andererseits das Durchbrechen eben dieser Silos – das Data Meshing. KMU müssen also in der Lage sein, Daten, die auch über die eigenen Unternehmensgrenzen hinausgehen, sehr transparent und agil zu integrieren und zu verarbeiten.

Früher hätten tatsächlich physische Rechenkapazitäten, die mit einem erheb­lichen finanziellen Aufwand verbunden sind, errichtet werden müssen. Hinzu kommt, dass schon nur der Aufbau dieser eigenen Infrastruktur viele Monate in ­Anspruch nähme. Heute geht das vor dem Hintergrund der Sharing Economy durch Cloudprovider und Hyperscaler nicht nur viel schneller, sondern auch deutlich kosteneffizienter. Für die Durchführung eines digitalen Zwillingprojekts gibt es ­einige Schritte, die ­befolgt werden müssen: Die Einrichtung, Analyse, Verwaltung und Pflege der Daten sind dabei von zentraler Bedeutung:

1. Überlegungen. Beginnen Sie damit, das gewünschte Ergebnis des Projekts, die Zielgruppe und die wichtigsten Stakeholder klar zu definieren. 

2. Auswertungen. Daten sind das wichtigste Element für jedes Projekt zu digitalen Zwillingen. Stellen Sie die verschiedenen Datentypen zusammen, die für das Projekt benötigt werden, und prüfen Sie deren Verfügbarkeit.  Bewerten Sie dann die Durchführbarkeit sowie die ethischen, rechtlichen, datenschutzrechtlichen und sicherheitsrelevanten Aspekte des Projekts. 

3. Absicherungen. Um eine ordnungs­gemässe administrative Prüfung zu ­gewährleisten, sollten Sie Rat bei den ­Innovations- oder IT-Strategie-Teams einholen, um die Details darzulegen und die Genehmigung und Finanzierung für das Projekt zu erhalten.

4. Analysen. Führen Sie eine detaillierte Analyse der Daten durch. Halten Sie speziell Ausschau nach:

  • unausgewogenen Daten, die zu Verzerrungen führen können (zum Beispiel nicht genug Daten im Zusammenhang mit bestimmten Ethnien, Geschlechtern und Altersgruppen),
  • unzureichenden Datenaufzeichnungen, die zu einer verzerrten Extra­polation führen können,
  • inkonsistenten Datenwerten, die das Modell unzuverlässig machen können und
  • fehlenden Datenfeldern, die die Gültigkeit des Modells beeinträchtigen können.

5. Entwürfe. Erstellen Sie eine Daten­architektur für den Data Lake, den ­Datenkatalog, die Integrationen und mehr. Die Architektur muss auf einem robusten Cybersicherheitsrahmen basieren.

6. Management. Um eine hohe Datenqualität zu gewährleisten, sollten Sie eine automatisierte Datenpipeline zur Validierung, Bereinigung, Umwandlung und Erweiterung Ihrer Daten aufbauen.

7. Verwaltung. Integrieren Sie eine solide Datenmanagement- und Governance-Strategie und -Prozesse, um Ihre ethische, rechtliche, datenschutzrechtliche und sicherheitsrelevante Position zu wahren.

8. Transparenz. Demonstrieren Sie In­tegrität, indem Sie die Details der ­verwendeten Daten, die Art und Weise ihrer Nutzung und die Ergebnisse allen Beteiligten und Betroffenen transparent mitteilen.

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