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Internationalisierung Teil 2/2

Wie China seine Wirtschaft neu ausrichtet

Auch in der Post-Covid-Zeit hat sich China noch nicht ganz erholt. Das vormals schnelle Wachstum stockt. Nachdem im ersten Teil die Gründe dafür beschrieben wurden, wagt der Autor in diesem zweiten Teil einen Ausblick auf die wirtschaftliche Entwicklung Chinas.
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Chinas hohe Ersparnisse und damit auch die hohen Investitionen sind das Ergebnis des niedrigen Konsums der chinesischen Haushalte. Der Konsum als Prozentsatz des BIP ist in China viel niedriger als in ­jeder anderen Volkswirtschaft in einem ähnlichen Entwicklungsstadium. Und da der Immobiliensektor Chinas hohe Ersparnisse nicht mehr aufnehmen kann, wird in die Fertigung überinvestiert.

Handelsspannungen erwartet

Aufgrund der Grösse der chinesischen Wirtschaft – die zweitgrösste der Welt in absoluten USD-Beträgen und die erste in Kaufkraftparität – erfordern diese Investitionen in die Fertigung, dass der Rest der Welt seinen Anteil an der Fertigung erheblich reduziert, um die chinesische Produktion aufzunehmen, die nicht in China konsumiert wird.

Gleichzeitig orientieren sich sowohl die USA als auch die EU (und Indien) an China und bauen ihre eigene Fertigung mit grossen staatlichen Anreizen auf. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass China seine Investitionen in die Produktion weiter steigern und seine Überka­pazitäten exportieren kann.

In dieser Situation kommen die Berechnungen der Ökonomen zu dem Schluss, dass das Wachstum des Landes ohne Reformen, die die Haushaltseinkommen steigern und den Konsum ankurbeln, schliesslich auf zwei bis drei Prozent pro Jahr zurückgehen muss, bis seine Wirtschaft wieder im Gleichgewicht ist (das heisst, Investitionen und Konsum stehen in einem Verhältnis, das zur wirtschaftlichen Entwicklung Chinas passt).

Die Erfahrung der Vergangenheit zeigt, dass kein Land in einer ähnlichen Situation wie China zuvor solche Transfers durchführen konnte, weil sie gegen Eigeninteressen gerichtet sind – in Chinas Fall hauptsächlich gegen die lokalen Behörden und die Unternehmen, die für sie arbeiten.

Wenn ein Land in der Geschichte in der Lage wäre, solche Veränderungen durchzuführen, dann ist es mit Sicherheit China, da die Zentralregierung über eine starke Durchsetzungskraft verfügt. Doch zum jetzigen Zeitpunkt ist eindeutig noch keine Entscheidung getroffen worden, Vermögen an die Haushalte zu übertragen (weder durch höhere Löhne noch durch grosszügigere soziale Absicherung), obwohl eine wachsende Zahl chinesischer Öko­nomen die Notwendigkeit dafür erkennt.

Gestiegene Exporte

Chinas Führung ist es gewohnt, das zu ­erreichen, was sie sich vorgenommen hat. Es ist daher wahrscheinlich, dass die chinesische Führung all ihre Ressourcen und Erfahrungen einsetzen wird, um auch in den kommenden Jahren relativ hohe Wachstumsraten (4,5 bis 5 Prozent) zu erzielen, den Bau von Handelsbar­rieren gegen chinesische Produkte zu ­vermeiden und ihre Exporte in die Welt weiter zu steigern.

Wir können davon ausgehen, dass dies zumindest in vielen Märkten und für einige Zeit funktionieren wird. Tatsächlich stiegen die Exporte aus China in den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 um 3,8 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2023; und die Han­delsbilanz im Juni 2024 erreichte einen Monatsrekord von 99 Milliarden USD. Dies deutet darauf hin, dass die Verbraucher weniger importierte Produkte kaufen (was einer Importsubstitution gleichkommt).

Wir sollten jedoch auch damit rechnen, dass in den nächsten Jahren protektio­nistische Massnahmen grosser Volkswirtschaften (und auch einiger unterentwickelter) ergriffen werden und Chinas Exportpotenzial verringert wird.

Infolgedessen wird sich der ohnehin schon brutale Wettbewerb auf dem chinesischen Markt nur noch verschärfen und die Erzeugerpreise weiter nach unten drücken (der chinesische Erzeugerpreisindex liegt seit September 2022 im negativen Bereich). Auch die Inflation wird wahrscheinlich weiterhin sehr niedrig bleiben. Chinas Inflation lag 2023 bei 0,2 Prozent und im ersten Halbjahr 2024 bei 0,1 Prozent.

Mit niedriger Inflation und einer Senkung der Zinssätze im Ausland wird China auch in der Lage sein, seine eigenen Leitzinsen weiter zu senken und seine Produktionsbasis wettbewerbsfähiger zu machen.

Die Anreize zur Förderung von Technologieentwicklung, Innovation, grüner Wirtschaft und Importsubstitutionen werden verstärkt, um Chinas auf dem dritten Plenum verkündeter Strategie zu folgen und auch die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Produzenten weiter zu stärken. Wenn sich der Konsum jedoch nicht erholt, wird sich das Wachstum höchstwahrscheinlich weiter verlangsamen und länger als ein Jahrzehnt auf einem Niveau von zwei bis drei Prozent bleiben – die Zeit, die benötigt wird, um überschüssige Investitionen abzuschreiben und den Konsum zum Hauptmotor der Wirtschaft zu machen.

Wachstumsfelder

Ein niedriges Wirtschaftswachstum bedeutet jedoch nicht, dass es keine Geschäftschancen gibt. Schliesslich liegen zwei bis drei Prozent am oberen Ende des erwarteten Wachstums der USA und der EU, und die Grösse der chinesischen Wirtschaft bietet an sich beträchtliche Möglichkeiten, selbst ohne Wachstum.

Darüber hinaus werden Bemühungen und Anreize zur Entwicklung lokaler Technologien in bestimmten Sektoren sicherlich Früchte tragen. Diese Bereiche werden viel schneller wachsen als Chinas Wirtschaft insgesamt.

Um noch einmal das Beispiel der Elektrofahrzeuge aufzugreifen: China ist zum effizientesten Standort für die Produktion von Elektrofahrzeugen und deren Subsystemen geworden. Die Hersteller von Elektrofahrzeugen könnten auch bei der neuen vernetzten Mobilität und dem autonomen Fahren ganz vorne mit dabei sein. Dies macht Chinas Automobilmarkt nicht nur zum grössten der Welt, sondern wahrscheinlich auch zu einem der dynamischsten. Chinas Automobil-Ökosystem wird Bedarf an unzähligen Produkten und Dienstleistungen erzeugen, den viele Schweizer, EU- und US-Unternehmen decken können.

Das Land wird wahrscheinlich auch zum wichtigsten Produktionszentrum für ­herkömmliche Halbleiter werden. Dabei wird es die Unterstützung von Geschäftsökosystemen benötigen, die ihren Sitz ­ausserhalb Chinas haben. Der chinesische Schiffbau stellt 46 Prozent der weltweiten Schiffskapazität dar und benötigt daher eine grosse Lieferantenbasis.

Der medizinische Markt wächst ebenso schnell, wie das Land altert und reicher wird. Er benötigt neue Medikamente und medizinische Geräte und entwickelt neue Wege der Gesundheitsversorgung. Wohlhabende Chinesen legen Wert auf hochwertige importierte Lebensmittel, und obwohl sie ihre Luxuskäufe einschränken, verzeichnen die besten Marken ­weiterhin Wachstum. Dies sind einige Beispiele für dynamische Sektoren, die beträchtliche Geschäftsmöglichkeiten bieten werden. Aus Chinas Innovationsdrang werden weitere spezifische Sek­toren entstehen, die ebenfalls viel schneller wachsen werden als der chinesische Durchschnitt.

Schweizer investieren weiter

Diese neue Phase der wirtschaftlichen Neuausrichtung, in die China jetzt eintritt, wird viele Chancen mit sich bringen, aber auch mehr Risiken bergen, als es ­ausländische Investoren bisher gewohnt sind. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass ausländische Unternehmen den Markt verlassen. 

Uns ist kein Schweizer Unternehmen bekannt, das seinen Betrieb in China geschlossen hat, wir haben jedoch von Unternehmen ohne lokale Präsenz gehört, die beschlossen haben, ihre Verkäufe auf dem Markt einzustellen. Tatsächlich eröffnen die Unternehmen, die in China ohne eigene lokale Präsenz Geschäfte machen, wenn überhaupt, Niederlassungen, um ihre Kunden besser bedienen und ihre Position auf dem Markt behaupten zu können.

Den zweitgrössten Markt der Welt aufzugeben, ist für die meisten Unternehmen, die in China erfolgreich sind, keine vernünftige Option. Und die Unternehmen, die in den schnell wachsenden Sektoren aktiv sind, investieren weiter. Ende letzten Jahres eröffnete Clariant eine neue Fabrik für flammhemmende Materialien für EV-Batterien.

Ein KMU, das Klebstoffe speziell für das Verkleben von Schaumstoffen herstellt, verschickt eine wachsende Zahl von Behältern für Automobil- und Möbelan­wendungen von der Schweiz nach China. ­Ypsomed baut eine 15 000 Quadratmeter grosse Anlage, um seine Produktion von Insulinpens zu lokalisieren. Straumann investiert 170 Millionen CHF in seinen Campus und seine Produktionsanlage in Shanghai.

Um Risiken zu minimieren, werden die meisten neuen Investitionen in China ­getätigt, um den lokalen Markt zu be­dienen. Damit diese Investitionen er­folgreich sind, ist es wichtig, dass sie unter Berücksichtigung des zunehmenden Wettbewerbs geplant werden: Effizienz, optimale Investitions- und Betriebskosten müssen von Anfang an in das Konzept integriert und alle verfügbaren lokalen Anreize genutzt werden. Die finanziellen Risiken können durch die Aufnahme von Krediten bei lokalen Banken reduziert werden, die bestrebt sind, gute Projekte zu finden, und attraktive Zinssätze an­bieten.

Kontinuierlicher Verkaufserfolg hängt von der Bereitstellung der besten Produkte und der Entwicklung bekannter Marken auf dem chinesischen Markt ab. Und um gute Erträge aufrechtzuerhalten, ist eine hohe Betriebseffizienz er­forderlich.

Um die Risiken von Handelsbarrieren oder Sanktionen zu mindern, errichten ausländische Unternehmen, die einen ­bedeutenden Teil ihrer Produktion aus China exportieren, zusätzliche Nieder­lassungen in anderen Niedriglohnländern oder Ländern mit den niedrigsten Kosten. Auf diese Weise bieten sie ihren Kunden, die ihre Lieferkette risikoärmer gestalten möchten, eine Alternative. Diese «China+1»-Strategie erfordert Managementressourcen, zusätzliche Investi­tionen und eine neue Lernkurve. Dennoch gilt sie als lohnende Absicherung gegen unsichere geopolitische Verhältnisse.

Noch immer grosse Chancen

Chinas Entwicklungsplan bietet jedoch auch Chancen für Neuankömmlinge, die neue Produkte und Technologien liefern können. Der Drang nach Technologie und Innovation erzeugt einen starken Bedarf an hochwertigen technischen Produkten, Komponenten und Ausrüstung, den in­ternationale Unternehmen, insbesondere Schweizer, gut erfüllen können. 

Obwohl China den Importersatz für ausgereifte Technologien fördert, erfordert eine schnelle Entwicklung den Import fortschrittlicher und neuer Technologien, hocheffizienter Ausrüstung oder intelligenter Innovationen.

China ist wahrscheinlich das Land, das in den letzten drei Jahrzehnten der Globalisierung am meisten profitiert hat. Seine Führer sind sich dessen sehr bewusst und beabsichtigen, Offenheit und freien Handel weiter zu fördern. Die jüngste Entscheidung, eine Erweiterung des chinesisch-schweizerischen Freihandelsabkommens zu diskutieren, ist ein gutes Beispiel für ihren Willen, den ex­ternen Teil der chinesischen Strategie des dualen Kreislaufs zu fördern.

Ob als lokaler Akteur, der in China pro­duziert und verkauft, oder als interna­tionaler Anbieter, der nach China exportiert, der chinesische Markt bietet weiterhin grosse Chancen. Das Geschäftsumfeld ist nicht einfach und wird wettbewerbs­intensiver werden. Aber wer in China erfolgreich ist, wird weltweit mit Sicherheit sehr wettbewerbsfähig sein.

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