Branchen & Märkte

Internationalisierung

Wie China seine Wirtschaft liberalisieren will

Die chinesische Führung ist mit der bisher grössten Herausforderung konfrontiert: Sie muss das Land auf einen wirtschaftlich nachhaltigen Pfad führen und gleichzeitig den Rückhalt in jenem Teil der Bevölkerung wieder gewinnen, für den das Jahrzehnt des «Wachstums um jeden Preis» eine verlorene Dekade war.
PDF Kaufen

Will die Regierung ihre ambitionierten Ziele erreichen, kann sie nicht auf das alte Rezept einer dominierenden Regierung und starken Ausgaben von staatlichen Unternehmen zurückgreifen. Ein völlig neuer Kurs ist gefragt. Im November 2013 hat die Regierung unter Xi Jinping einen 60-Punkte-Reformplan veröffentlicht, der die langfristige wirtschaftliche und soziale Reformagenda darstellt. Zwar umfasst der Plan keinerlei politische Reformen. Dennoch könnte die Umsetzung ähnlich durchschlagende Veränderungen bringen wie die Reformen Deng Xiaopings, die die chinesische Wirtschaft in den 80er-Jahren öffneten.

Umfassender Wandel geplant

Ein Eckpfeiler dieser Reformagenda ist die Stärkung des Justizwesens zugunsten der Bevölkerung und der Unternehmen durch die Förderung von grösserer Transparenz, juristischer Unabhängigkeit und durch die Professionalisierung des gerichtlichen Entscheidungsprozesses. So werden zum Beispiel Gerichte gegründet, die auf den Schutz von geistigem Eigentum spezialisiert sind. Ein klareres Gesetz über Staatsgeheimnisse wurde verabschiedet. Beamte wurden angehalten, vermehrt Regierungsinformationen an die Öffentlichkeit weiterzugeben, vorallem in Bezug auf die Verwendung von Budgets.

Alles in allem zeigen diese Neuerungen die Entschlossenheit der chinesischen Führung, die Art und Weise, wie die Behörden arbeiten, zu regulieren und gleichzeitig eine Gesellschaft und Wirtschaft zu entwickeln, in welcher der Staat keine interventionistische, sondern eine regulierende Rolle einnimmt. Zu guter Letzt soll dadurch zum einen die Entwicklung von privaten Unternehmen in China vorangetrieben werden. Es soll ein Umfeld geschaffen werden, das von der Bevölkerung als fair angesehen wird.

Die internationalen Medien konzentrieren sich vor allem auf die Verfolgung von Dissidenten durch die Regierung. Es ist ebenso interessant, anhand einiger Beispiele zu betrachten, welchen umfassenden Wandel Peking plant.

Kampf gegen die Korruption

Eine der charakteristischen Agenden der Regierung von Xi Jinping ist der unerbittliche Kampf gegen Korruption auf allen Ebenen. Die Legitimität der Führung soll gestärkt, die chinesische Wirtschaft von Fesseln befreit werden. Auch wenn manche Kritiker die Anti-Korruptionskampagne vor allem als politischen Machtkampf sehen, ist unwiderlegbar, dass keine Anti-Korruptionskampagne in der Geschichte des modernen Chinas je so weit reichte: Am 29. Juli verkündete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua die Anklage gegen Zhou Yongkang, ein ehemaliges Mitglied des ständigen Ausschusses des Politbüros. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas, dass ein Mitglied dieses innersten Zirkels wegen einer kriminellen Handlung angezeigt wird.

Bereits vorher wurde ein ehemaliger Top-General und Vize-Vorsitzender der Militärkommission abgelöst, Korruptionsvorwürfe stehen im Raum. Werden diese und andere Fälle weiterhin so verfolgt, werden dadurch Präzedenzfälle geschaffen, die eine klare Botschaft senden: Im heutigen China kann sich niemand mehr erlauben, das Recht zu brechen.

Ein kürzlich verabschiedeter Fünf-Jahres-Anti-Korruptions-Plan (2013 – 2017) verleiht diesen Entwicklungen noch mehr Substanz. Der Plan soll die Rahmenbedingungen für langfristige Transparenz in der chinesischen Regierung und Verwaltung schaffen. Unter den zahlreichen Massnahmen, auf die die Öffentlichkeit so lange gewartet hat, ist die Anordnung, dass neu ernannte Amtspersonen ihr privates Vermögen offenlegen müssen.

Einschränkung der Staatswillkür

Die Regierungsbehörde CPLC, die über das gesamte Justizwesen wacht, hat eine Entscheidung über die «aufrichtige Vermeidung von Justizirrtümern» verabschiedet, die später vom obersten Gerichtshof mit der Stellungnahme über «Systeme zur Vermeidung von ungerechten Verfahren» ergänzt wurde.

Diese Dokumente wiederholen zu einem grossen Teil nur die bestehende Strafprozessordnung und ähnliche Gesetze der Volksrepublik. Dennoch wurden auch einige fundamentale Änderungen vollzogen. Zum einen die klare Betonung, künftig die Rechenschaftspflicht von Richtern, Anklägern und Polizei stärker zu vollstrecken. Zum anderen auch die Sicherstellung der Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber Medien und Öffentlichkeit; und nicht zuletzt die Schaffung einer grösseren Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive.

Ein weiterer fundamentaler Wandel ist die Abschaffung des Systems der Umerziehung durch Arbeit, das es der Polizei bislang ermöglichte, Bürger bis zu drei Jahre lang in Arbeitslager zu schicken, ohne die Justiz zu bemühen – ganz ohne Richterspruch.

Der chinesische Staatsrat hat am 25. Februar bekannt gegeben, einen Transparenz-Mechanismus einzuführen. Demzufolge muss die öffentliche Hand künftig alle administrativen Zustimmungserfordernisse offenlegen – von der zentralen Regierungsebene bis in die Provinzen. Das bedeutet, dass Regierungsbehörden künftig nicht mehr in die Genehmigung von Elementen eingreifen können, die nicht in ihre Zuständigkeit fallen. Da­rüber hinaus werden die Behörden künftig zustimmende und ablehnende Beschlüsse auf den offiziellen Homepages offenlegen müssen, um Transparenz zu fördern.

Änderung des Gesellschaftsrechts

Um private Investitionen und Unternehmertum anzukurbeln, hat der Nationale Volkskongress die «Änderungen zum Gesellschaftsrecht der Volksrepublik China» am 28. Dezember 2013 angepasst. Die Auflagen für eine Unternehmensgründung wurden entschärft, das System der Kapitaleinlagen für neue Firmen reformiert. Die wichtigsten Veränderungen seit dem 1. März 2014 sind:

  • Der Wechsel von einem System, das auf eingezahltes registriertes Kapital basiert («paid-in registered capital»), zu einem, das auf eine Zahlung bei der Anmeldung eines Unternehmens setzt («subscribed registered capital»), wird wohl den grössten Einfluss haben. Da Investoren nun über einen viel längeren Zeitraum Kapital beisteuern können, sind Unternehmen in der Entwicklung ihrer Geschäfte viel flexibler.
  • Das Mindest-Registrierungskapital von 30 000 RMB für Firmen mit begrenzter Haftung wird genauso abgeschafft wie die 100 000 RMB für Unternehmen mit einem einzigen Aktionär und die 5 Millionen RMB für Aktiengesellschaften. Theoretisch werden Investoren in der Lage sein, ein Unternehmen mit einem registrierten Kapital von einem RMB zu gründen. Dazu kommt, dass die Gesetzesänderungen auch die Bestimmung löscht, wonach mindestens 30 Prozent des Registrierungskapitals in Geldmitteln beglichen werden muss.
  • Unternehmen müssen sich künftig nicht mehr einer jährlichen Überprüfung unterziehen. Stattdessen stellen sie einmal im Jahr einen Bericht zur Verfügung, der zum Teil auf einer Online-Plattform der Regierung öffentlich gemacht wird.

Ausländisch investierte Gesellschaften in China werden dieselben Erleichterungen bei der Unternehmensanmeldung zugute kommen. Die meisten Beobachter erwarten, dass diese Neuheiten Unternehmen sehr nützlich sein werden, indem sie exzessive Regulierungswut einschränken und Projektgenehmigungen beschleunigen.

Ein neues Rechtsprinzip: die Einführung der «Negativen Liste» in der Freihandelszone Shanghai

Am 29. September 2013 gab die chinesische Regierung die Eröffnung der Shanghaier Freihandelszone bekannt. Viele Experten sahen aufgrund der Pilotfunktion der Freihandelszone den grössten Liberalisierungsschritt seit der Politik der offenen Tür vor 30 Jahren. Die Gründung der Freihandelszone ist besonders bedeutend, weil sie die kommenden wirtschaftlichen Reformen testen soll, bevor diese auf den Rest des Landes ausgeweitet werden. Schlussendlich soll die Wirtschaft auf den nächsten nachhaltigen Level gehoben werden.

Das Rahmenwerk der Freihandelszone umfasst die Öffnung von fünf Service-Sektoren für ausländische Investitionen. Auflagen für die Kapitalregistrierung wurden gelockert oder aufgehoben, Restriktionen in Bezug auf Anteile von Aktionären und in Bezug auf den Geschäftsrahmen abgeschafft. Die fünf Sektoren sind

  • 1. Finanzdienstleistungen,
  • 2. Einkaufs-Dienstleistungen,
  • 3. Unternehmensdienstleistungen,
  • 4. Experten-Services und
  • 5. Kulturelle Dienstleistungen.

Nicht zuletzt wird die Pilot-Freihandelszone für einen grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Rechtsprinzip in Erinnerung bleiben. In allen anderen Teilen Chinas muss bis zum heutigen Tag jede Aktivität von privaten Unternehmen zuerst von den Behörden genehmigt werden. In der Freihandelszone in Shanghai sind alle Aktivitäten, die in der sogenannten «Negativen Liste» nicht ausdrücklich verboten sind, automatisch erlaubt. Am 1. Juli 2014 wurden Modifikationen an dieser «Negativen Liste» veröffentlicht. Die Kürzung der Liste bringt zwar keinen riesigen Liberalisierungsschritt, aber eines wird verdeutlicht: China befindet sich in einem Prozess, der Restriktionen abschaffen soll.

Es ist nur konsequent, dass sich Unternehmen in der Freihandelszone ohne vorherige Zustimmung der lokalen Behörden anmelden können. Im Westen ist das die Standard-Praxis, in China aber Neuland. Deswegen kann die Bedeutung dieses Wandels nicht stark genug betont werden. Nicht zuletzt, weil diese Bestimmungen in einem zweiten Schritt in ganz China umgesetzt werden sollen.

Die neue Rolle des Justizwesens

All diese Änderungen zeigen die Entschlossenheit Pekings, das Justizwesen so einzurichten, dass es für Chinas Entwicklung förderlich ist und unter Kontrolle der Regierung bleibt. Das chinesische Justizwesen ist damit natürlich weiterhin nicht unabhängig. Im Gegensatz zum west­lichen Konzept des «Rule of Law» haben wir im Reich der Mitte immer noch ein «Rule by Law». Allerdings sind die Anstrengungen erkennbar, das Justizwesen in Richtung einer faireren und unter­nehmensfreundlicheren Gesellschaft zu verändern.

Premierminister Li Keqiang hat das während einer Anti-Korruptionsansprache am 11. Februar 2014 sehr treffend gesagt: «Alles was das Gesetz nicht verbietet, kann umgesetzt werden, wenn es den Markt betrifft. Umgekehrt muss alles, was die Regierung macht, vom Gesetz autorisiert sein.»

Porträt