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China nimmt Abschied vom alten Wachstumsmodell

Chinas Wirtschaftspolitik steht am Scheideweg. Das bisher verfolgte Wachstumsmodell auf Basis staatseigener Unternehmen ist auf Sicht so nicht fortzuführen. Es gibt Anzeichen für eine Liberalisierung, die ein qualitatives Wachstum möglich machen soll.
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Das Jahr 2013 war ereignisreich und herausfordernd. Das gilt für die ganze Welt und speziell für China. Was hat uns das Jahr gelehrt, und was können wir von der Zukunft erwarten? Der Führungswechsel an Chinas Spitze ging nicht so ruhig über die Bühne, wie es die Parteigranden geplant hatten. Entgegen aller politischer Traditionen rang Bo Xilai um eine Position im innersten Führungszirkel, was die bedeutendste politische Krise seit Mao-Zeiten auslöste. Parallel dazu wurde der Bevölkerung immer mehr klar, dass die Regierenden in Machenschaften verstrickt waren, um ihren Verbündeten und Familien zu ungeheurem Wohlstand zu verhelfen.

Korruption und Misstrauen

Noch schlimmer: Die chinesische Bevölkerung erkannte, dass diese Machenschaften nicht nur unfair sind, sondern sogar ihr tägliches Leben bedrohen. Eingestürzte Brücken, Bahnunglücke, Lebensmittelskandale, rekordverdächtige Luftverschmutzung – all dies wird immer öfter als direktes Resultat von Korruption gesehen. Von 2011 bis 2012 sind in nur 18 Monaten acht Brücken eingestürzt. Zu den wahrscheinlichsten Gründen zählte jeweils Korruption im Baubereich. Nach vier verschiedenen Lebensmittelskandalen wurden in einer Woche im Oktober 2013 nicht weniger als 59 Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt, manche davon lebenslang.

Ebenso noch im Oktober erreichten Feinstaubwerte in der nordchinesischen Stadt Harbin das 40-Fache von internationalen Standards. In Harbin leben elf Millionen Menschen. Am 5. November schlug die Geschichte eines achtjährigen Mädchens im Internet wie eine Bombe ein: Das Mädchen bekam die Diagnose Lungenkrebs – mitverursacht durch die starke Luftverschmutzung.

Mittlerweile hat eine wissenschaftliche Studie ergeben, dass die Lebenserwartung der Menschen in Nordchina wegen der intensiven Nutzung von Kohleöfen um fünf Jahre zurückging. Bei grossen Teilen der Bevölkerung führte das zu einer Entfremdung gegenüber den politischen Entscheidungsträgern. Zynismus und Wut auf die Führung macht sich im Internet breit.

Staatskapitalismus

Auf wirtschaftlicher Ebene werden Investitionen ein immer wichtigerer Teil von Chinas Bruttoinlandsprodukt. Von 2000 bis 2012 ging der Anteil des privaten Konsums am BIP von 47 Prozent auf 33 Prozent zurück, das ist ungefähr die Hälfte im Vergleich zu den westlichen Volkswirtschaften. (Die USA erreicht knapp 60 Prozent, die Schweiz knapp 70 Prozent.) Experten erwarten bis 2030 einen Anstieg auf rund 45 Prozent.

Zwischen 2000 und 2012 wuchsen besonders die staatlichen Unternehmen exponentiell und nützten ihr Gewicht, um ihre Monopolstellung zu stärken und den Status quo zu zementieren.

Nach den ehrgeizigen Reformen der 90er-Jahre, die einerseits den staatlichen Sektor einschränkten und andererseits den Unternehmersinn der Chinesen weckten, hat sich die vierte Generation der kommunistischen Führung unter Hu Jintao und Wen Jiabao einer Form des Staatskapitalismus verschrieben. Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung wurden zunehmend von staatlichen Investitionen abhängig, die wiederum von den staatlichen Banken finanziert wurden.

Mit vom Staat festgelegten Zinsraten haben chinesische Bürger und Bürgerinnen keine andere Wahl, als ihre Ersparnisse in Staatsbanken anzulegen, obwohl die Zinsen oft unter der Inflation liegen. Dieser ganze Prozess hat die Staatsinvestitionen auf günstige Art und Weise finanziert – die Bürger haben bezahlt.

Zur selben Zeit haben die Familien und die Freunde von Politikern und ehemaligen Parteiführern ihre Beziehungen dazu ausgenützt, Grossaufträge von Staatsbetrieben zu ergattern oder Anteile dieser Unternehmen zum richtigen Zeitpunkt zu kaufen. Sie haben sich an diesem System auf sehr einfache Art und Weise bereichert, obwohl staatliche Betriebe trotz aller Vorteile kontinuierlich geringere Profite erzielen als der private Sektor. Dieser Trend wurde nach der Finanzkrise noch beschleunigt, da Staatsbetriebe weiter wuchsen.

Neues Wachstumsmodell nötig

Es ist nicht überraschend, dass dieses investmentbasierte Wachstumsmodell zu einem starken Anstieg der Staatsschulden führte. Im ersten Halbjahr 2013 wurden die gesamten Staatsschulden – dazu zählen sowohl die «lokale» Verschuldung der Provinzregierungen als auch die «zentrale» Verschuldung in Peking – ausgewertet: ein Anstieg um 13 Prozent, im Jahresabschluss sogar 26 Prozent. Von 2010 bis Juni 2013 wuchsen die Staatsschulden anteilsmässig am BIP um 6,6 Prozent. Zwar bleibt China mit einer Staatsverschuldung von 56 Prozent bei Weitem gesünder als fast alle westlichen Staaten, dieser Trend macht aber Sorge.

Chinas Wachstumsmodell ist auf lange Sicht so nicht aufrechtzuerhalten. Die Entwicklung würde wohl in einer Finanzkrise oder einem sehr langsamen Wachstum münden, wenn nicht richtig reagiert wird. Dazu kommt, dass sich das Land in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht mehr auf Exporte als signifikanter Faktor für Wachstum verlassen kann. Für die Bevölkerung wären stagnierendes Wachstum oder gar eine Finanzkrise selbstredend völlig inakzeptabel.

Solch eine Situation würde schliesslich die stille Übereinkunft, die einen Grossteil der Bevölkerung mit der Regierung verbindet, auflösen. Nämlich die Übereinkunft, wonach die Regierung nachhaltig für verbesserte Lebensbedingungen sorgt und es die Bürgerinnen und Bürger im Umkehrschluss akzeptieren, nicht im politischen Entscheidungsprozess eingebunden zu sein.

Ein Versagen auf wirtschaftlicher Ebene würde für Chinas aktuelle Führung auch bedeuten, keinen vorteilhaften Platz in der eigenen Geschichtsschreibung einnehmen zu können. Und genau das ist nach wie vor eine bedeutende Antriebsfeder für die politische Führungselite. Wären die heutigen Entscheidungsträger für den Niedergang des «Neuen China» verantwortlich, würde ihnen von der Bevölkerung zweifellos das Ruinieren der in weiten Kreisen respektierten Arbeit der ersten und zweiten Führungsgeneration angelastet werden. Die Missgunst einer ganzen Nation wäre ihnen sicher.

Produktivität steigern

Die offensichtliche Lösung dieser Probleme ist eine Veränderung des chinesischen Wachstumsmodells. Statt Abhängigkeit von staatlichen Investitionen ist eine höhere Inlandskonsumation nötig. Die Bevölkerung muss dazu ermuntert werden, mehr Geld in die Verbesserung des eigenen Lebens zu investieren, anstatt es dem Staat zu leihen, der damit Infrastrukturprojekte vorantreibt oder Staatsbetriebe mit Kapital versorgt.

Ein Anstieg des Inlandsverbrauchs ist aber nur ein Teil der Lösung auf dem Weg zu einem nachhaltigen Wachstum. Da die arbeitende Bevölkerung – also diejenigen, die zum Bruttoinlandsprodukt beitragen – ein Plateau erreicht, muss sich die Produktivität steigern, um das Wirtschaftswachstum aufrechterhalten zu können. Wenn es keine zusätzlichen Arbeitskräfte im Markt gibt, muss eben jeder Einzelne mehr Output generieren, um das Gesamtwachstum beizubehalten.

Da nur eine kleine Elite vom Gewinn der Staatsunternehmen profitiert, die überdies auch noch weniger profitabel und effizient agieren, gibt es nur eine Lösung: Nur durch eine Stärkung des privaten Sektors, durch die Schaffung von Chancen und Anreizen können Produktivität und Konsum angekurbelt werden. Diese Schlussfolgerung ist unumstritten, deren Umsetzung geht aber gegen die Interessen der staatlichen Unternehmen und der Politiker, die die Staatsbetriebe kontrollieren und von ihnen profitieren. In anderen Worten: Um langfristiges Wachstum – und damit nichts anderes als die Zukunft Chinas – zu sichern, gibt es keine Alternative zur Einschränkung des Einflusses des staatlichen Sektors und derjenigen, die von ihm profitieren.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass Präsident Xi Jinping bei seiner Dankesrede zur Amtseinführung ausdrücklich vor der Bedrohung, die die Korruption für die Partei und ihren Führungsanspruch darstellt, gewarnt hat. Die Kernfrage, die über Chinas Zukunft entscheiden wird, ist, ob die aktuelle Regierung stark genug sein wird, den Staatssektor trotz zu erwartender Widerstände zu begrenzen.

Positive Signale

Mehrere Ereignisse der letzten Monate geben aber Grund zum Optimismus: Im Gegensatz zu seinen zwei Vorgängern (Jiang Zemin und Hu Jintao, die dritte und vierte Generation) wurde Xi Jinping gleichzeitig Generalsekretär der kommunistischen Partei, Präsident und der Vorsitzende der Militärkommission. Hu Jintao musste sich zwei Jahre gedulden, bis er auch die Militärkommission übernehmen konnte. Dazu kommt, dass Xi Jinping der Sohn eines Mitstreiters Maos, des ehe­maligen Vize-Premierministers Xi Zhongxun, ist. Diesem wird die Umsetzung der Reformen in Shenzhen in den 80er-Jahren zugeschrieben.

Xi Jinping ist einer derjenigen, die die Arbeit der vergangenen politischen Entscheidungsträger nicht gefährden, sondern fortsetzen wollen. Genauso wichtig ist, dass er als Sohn eines frühen kommunistischen Politikers den Hintergrund und die Legitimität dafür hat, seine Vorstellungen auch innerhalb der Partei durchzusetzen – auch gegenüber anderen Nachfahren von Revolutionären, die mitunter eine wichtige Rolle spielen.

Ein klarer Hinweis darauf, dass Xi mit Bestimmtheit und auch mit dem nötigen Rückhalt agiert, ist seine Entscheidung, ein Ermittlungsverfahren gegen Zhou Yongkang, einen der wichtigsten Unterstützer Bo Xilais, einzuleiten. Es ist bemerkenswert, dass damit zum ersten Mal in der Geschichte der Volksrepublik China tatsächlich gegen ein Mitglied des Politbüros ermittelt wird. Obwohl das sicherlich auch zum Teil ein Schritt zur Stärkung der eigenen Macht ist, zeigt diese Entscheidung doch, dass im heutigen China niemand mehr unantastbar ist. Es bedeutet auch, dass kein ehemaliger Spitzenpolitiker mehr dazu in der Lage ist, Verbündete oder Befehlsempfänger vor Ermittlungen zu schützen. Jeder Politiker, der auf der sicheren Seite sein will, muss nun ethisch korrekt arbeiten. Diese neue Herangehensweise deutet darauf hin, dass die Korruption in höchsten Führungszirkeln in den kommenden Jahren zurückgehen wird.

Schritt zur Liberalisierung

Auf wirtschaftlicher Ebene hat der neue Premierminister ebenso starke Entschlossenheit erkennen lassen. Die versuchsweise eingerichtete Freihandelszone in Shanghai wurde im September 2013 offiziell eröffnet. Und dies, noch bevor das dritte Plenum der kommunistischen Partei die neue Reformpolitik diskutierte und absegnete. Hinter der vorge­haltenen Hand wird denn auch berichtet, dass Li mit geballter Faust energisch auf den Tisch geschlagen hat, um dieses Projekt trotz der Gegenstimmen in der Partei durch­zubringen.

In der Freihandelszone in Shanghai wurden unter anderem die Ausbildung und das Gesundheitswesen für ausländische Investitionen geöffnet. Vorangetrieben wurde ebenso die finanzielle Libera­lisierung sowie die Registrierung neuer Unternehmen erleichtert. Der wichtigste Schritt könnte aber sein, dass ein grundliegendes Prinzip des chinesischen Rechts umgedreht wurde: Was nicht explizit erlaubt ist, ist verboten. In der Freihandelszone wurde aber eine «Negativliste» erstellt, die Geschäftsfelder enthält, die in der Zone nicht erlaubt sind. Alles, das nicht auf der Liste steht, wird autorisiert.

Während das unserem normalen Rechtsverständnis entspricht, ist es für China ein grosser Wandel in der Philosophie, weil sich die Regierung damit nicht länger in jedes Detail einmischen kann. Es ist ein klarer Schritt in Richtung wirtschaftlicher Liberalisierung und auch Rechtsstaatlichkeit, an die Li Keqiang scheinbar stark glaubt.

Ausblick

Was in der Freihandelszone momentan passiert, ist deswegen so wichtig, weil es sich um ein Testprojekt handelt. Sollten die neuen Richtlinien in diesem Umfeld erfolgreich getestet werden, werden sie auch auf den Rest Chinas übertragen werden. Man kommt nicht daran vorbei, Vergleiche zu ziehen: Und zwar zwischen der Freihandelszone in Shanghai und den Richtlinien, die in den 1980er-Jahren in Shenzhen getestet wurden. Von niemand anderem als Xi Jinpings Vater.

Es deutet alles darauf hin, dass China die richtige Entwicklung einschlägt und die richtigen Führungspersönlichkeiten hat, um das Land in dieser nicht einfachen Phase zu leiten. Wachstum um jeden Preis wird es nicht mehr geben. Die Qualität und die Geschwindigkeit, mit der China auf eine nachhaltige Entwicklung zusteuert, werden entscheidend sein. In absoluten Zahlen wird das BIP-Wachstum noch zunehmen. China wird zum grössten Konsumgütermarkt der Welt aufsteigen.

Dieser Weg wird nicht leicht. Neben zahlreichen anderen Herausforderungen muss China auch eine Lösung für den Territorialkonflikt mit Japan finden und sich mit einer unberechenbaren Führung in Nordkorea herumschlagen. Zudem wird eine Reform des Bildungswesens in Zukunft unabkömmlich sein.

Aus wirtschaftlicher Sicht können wir mit viel Optimismus auf das Jahr 2014 und die nahe Zukunft blicken. Sowohl internationale als auch lokale Unternehmen können die Chancen nützen, die Chinas zweite grosse Reformperiode zwangsläufig bringen wird.

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