Aussergewöhnliche oder unerwartete Ereignisse stören den «courant normal» und beanspruchen Ressourcen finanzieller, personeller, aber auch emotionaler Natur. Im Falle eines Familienunternehmens kann es sich auf der Unternehmensseite beispielsweise um den plötzlichen Verlust eines wichtigen Kunden handeln, auf der Familienseite um einen eskalierenden Konflikt zwischen Geschwistern. Aussergewöhnliche Ereignisse sind in der Regel nicht absehbar, oder zumindest weiss man nie genau, wann und mit welcher Stärke sie eintreffen werden.
Lernen von den Grossen
Von Hochleistungssystemen, das heisst von Organisationen wie Atomkraftwerken, Krankenhäusern oder Flugzeugträgern, können Unternehmen lernen, wie hochkomplexe Systeme auch in ungeplanten Situationen weiterhin fehlerfrei funktionieren.
Bei Hochleistungssystemen hätte ein Fehler fatale Folgen – daher sind sie, wie keine anderen Organisationen, darum besorgt, kleinste Störungen sofort zu entdecken und entsprechend zu reagieren. Hochleistungssysteme machen zwei Dinge ganz besonders gut: Die Antizipation unerwarteter Ereignisse durch die Entwicklung einer hohen Sensibilität für betriebliche Abläufe, und die Art und Weise, wie sie auf solche Situationen reagieren.
Oftmals entdecken Unternehmen Fehler erst nach einem Zwischenfall – es ist jedoch so, dass sich überraschende Ereignisse in den meisten Fällen durch Anomalien und Fehler ankünden, die erst einmal unbemerkt bleiben. Wichtig ist bei Hochleistungssystemen daher die Entwicklung einer Fehlerkultur: Nur wenn Fehler als Chance wahrgenommen werden und die Mitarbeitenden wissen, dass sie Fehler zugeben und Störungen melden können – sogar sollen –, ohne bestraft zu werden, werden solche Ereignisse auch gemeldet.
Ausserdem schauen Hochleistungssysteme über den Tellerrand hinaus: Sie rechnen mit Ereignissen, die anderen Organisationen als undenkbar oder gar skurril erscheinen, und mit denen sie sich folglich nicht auseinandersetzen. So entwickeln sie ein möglichst breites Vorstellungsspektrum, und zwar durch die Diskussion konträrer Standpunkte und Ideen, idealerweise in interdisziplinä-ren Teams mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen.
Tritt eine noch so kleine Störung ein oder eine winzige Anomalie auf, dann reagieren die Hochleistungssysteme darauf mit starken Massnahmen – so gewinnen sie Handlungsspielraum und vermeiden, dass sich eine noch geringe Störung auf das Restsystem ausbreitet und an Stärke gewinnt. Denn die Hochleistungssysteme anerkennen, dass auch schwache Signale Vorboten tief greifender Veränderungen sein können. So kann das Auftauchen einer neuen, innovativen Technologie das Ende einer ganzen Industrie bedeuten – so geschehen bei der Digitalfotografie.
Als Einheit stark
In jeder Familie gibt es unzählige Situationen, die grundsätzlich vorstellbar sind – man will sie vielleicht nicht unbedingt in Betracht ziehen, doch man weiss, es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie eintreffen. Dazu gehören bei Unternehmerfamilien Ereignisse wie ein plötzlicher Todesfall, psychische Probleme eines Familienmitglieds, eine Scheidung, ein öffentlicher Skandal oder ein Konflikt zwischen Familienstämmen. Dagegen kann man sich unter Umständen absichern, mit Ehe verträgen, Vollmachten, Versicherungsverträgen und PR-Strategien. Das wirksamste Instrument jedoch, um als Familie mit unerwarteten und möglicherweise auch sehr unangenehmen Situationen umgehen zu können, ist die Einheit innerhalb der Familie. Die Familieneinheit ist denn auch die wichtigste Voraussetzung dafür, gemeinsam tragfähige Entscheidungen zu finden und als Familie handlungsfähig zu bleiben. Doch weshalb sind gewisse Familien geeinter – und dadurch auch widerstandsfähiger und gesünder – als andere? Die zwei wichtigsten Merkmale geeinter Familien sind, dass diese erstens Zeit miteinander verbringen, und zweitens eine Vision haben, die über das Unternehmen hinausgeht (siehe Box).
Einheit in der Familie ist nicht etwas, das den Familienmitgliedern in die Wiege gelegt wird – meist muss sie hart erarbeitet werden. Vielfach bestehen zwischen den verschiedenen Familienstämmen unterschwellige oder gar offene Konflikte, die über Generationen weitergegeben und nicht gelöst werden. In solchen Fällen ist es schwer, insbesondere in einer schwierigen Situation rasch zu einer Lösung zu kommen. Oft verlieren die Familien gerade in Notsituationen Zeit mit Diskussionen, die mit dem eigentlichen Ereignis nichts zu tun haben, sondern den unterschwelligen, schon lange bestehenden Konflikt betreffen. Die Reaktionsfähigkeit der Familie ist somit aufgrund der fehlenden Einheit eingeschränkt. Einheit innerhalb der Familie ist also eine Grundvoraussetzung für das langfristige Funktionieren des Familienverbundes – denn nur geeinte Familien bleiben in schwierigen Situationen nicht nur entscheidungs-, sondern auch handlungsfähig.