Acht Intelligenzen
Gardner kommt zu einer Liste von acht Intelligenzen, die nachstehend weniger definiert als vielmehr kursorisch beschrieben werden, damit die Ausdehnung des Feldes spürbar wird, auf das sich die jeweilige Intelligenz bezieht. Im Anschluss daran soll auf einige kritische Punkte hingewiesen werden.
1. Sprachliche Intelligenz
Sprachliche Intelligenz zeigt sich im mündlichen oder schriftlichen Umgang mit Sprache. Wenn jemand schnell ein passendes Wort oder einen treffenden Ausdruck findet, wenn Bedeutungsnuancen beachtet und bewusst eingesetzt werden, wenn jemand gern mit Sprache umgeht, sie näher erforscht, keine grösseren Probleme mit der Grammatik hat, wenn sich jemand Schriftbilder leicht einprägen kann, wenn er oder sie ein Gefühl für gesprochene Klänge, Reime und Rhythmen mitbringt, mit Sprache spielen kann, sich für andere Sprachen (oder Zeichensysteme) interessiert – dann ist sprachliche Intelligenz am Werk. Dabei müssen nicht alle genannten Phänomene in einer Persönlichkeit vereinigt sein – das wäre dann ein von Gardner sogenannter «Endzustand», eine Meisterschaft in Bezug auf Sprache – es reicht, wenn einige davon auf einen Menschen zutreffen, um ihn «sprachlich intelligent» nennen zu können. Für den Erfolg in den unterschiedlichsten Bildungseinrichtungen ist der Bereich der sprachlichen Äusserungen von ausserordentlicher Wichtigkeit. Allerdings wird wohl kaum jemand der Behauptung widersprechen, dass die schriftlichen Kommunikationsaufgaben in Schulen und Universitäten gegenüber den mündlichen bei Weitem überwiegen, obwohl es sich im alltäglichen und beruflichen Leben häufig genau anders herum verhält.
2. Musikalische Intelligenz
Menschen mit musikalischer Intelligenz sind sensibel für Klänge, Geräusche und Rhythmen, natürliche ebenso wie künstliche. Oft singen sie, pfeifen oder summen, während sie mit anderen Dingen beschäftigt sind. Sie lieben es, Musik zu hören, sammeln CD, Kassetten oder Schallplatten und spielen in der Regel ein Instrument, das sie nicht nur technisch beherrschen, sondern auch mit viel Ausdruck zum Klingen bringen. Beim Singen treffen sie die Töne mühelos und tun sich leicht damit, Melodien zu erinnern und zu reproduzieren. Sie haben Rhythmus in sich, so dass sie sich oft schwingend im Takt bewegen oder selbst kleine rhythmische Gedichtchen machen, um sich Fakten und Informationen zu merken. Ein kompositorisch begabter Mensch hat ständig Töne in seinem Kopf, die sich wie von selbst zu Mustern formen – eine Fähigkeit, die ihm vielleicht so selbstverständlich ist, dass er sie kaum als besondere Begabung wahrnimmt. Richard Wagner meinte beispielsweise, er würde Musik hervorbringen, so wie eine Kuh Milch produziert. Nach Gardners Beobachtungen zeigt sich keine andere Intelligenz in so frühem Alter wie die musikalische.
Es gibt autistische Menschen, bei denen die musikalische Intelligenz die weitgehend einzige Form personalen Ausdrucks ist. Solche sogenannten idiots savants sind beispielsweise in der Lage, eine einmal oder wenige Male gehörte Melodie auf dem Klavier nachzuspielen und übertreffen dabei jeden durchschnittlich begabten Pianisten. Die Existenz von «idiots savants» bildet einen wichtigen Beleg für die Theorie der multiplen Intelligenzen.
3. Logisch-mathematisch
Es gibt Menschen, die gerne Probleme lösen, sei es im Beruf oder im Spiel, auf dem Papier oder am Computer. Sie überraschen uns mit der Blitzartigkeit ihrer Kopfrechnungen. Sie haben die Fähigkeit, genau hinzusehen, Strukturen wahrzunehmen und ihr Denken auf den systematischen und logischen Bahnen von Ursache und Wirkung vorwärtszubewegen. Sie setzen bewusst Hypothesen und versuchen sie dann zu verifizieren. Sie besitzen einen «kriminalistischen Spürsinn», mit dessen Hilfe sie induktiv oder deduktiv ihrem Ziel näherkommen. Logisch-mathematisch begabte Menschen haben Zugang, ja sogar Zuneigung zum Abstrakten, zu Zahlen und Operationen; sie haben ein sicheres Gedächtnis und ein spezielles Konzentrationsvermögen, um sich Symbole und die an ihnen vorgenommenen geistigen Operationen über längere Zeit präsent zu halten. Sie lieben es, sich im Bereich der imaginären oder irrationalen Zahlen aufzuhalten und über die Eigenschaften von Paradoxien, möglichen und unmöglichen Welten nachzudenken.
Der Mathematiker und Philosoph Henri Poincaré sprach von den Fähigkeiten, nicht nur zahlreiche Schlüsse ziehen zu können, sondern auch ein Gefühl für die Zusammenhänge der Ausgangsgrössen zu haben und die Richtung zu spüren, wohin die Erwägungen führen könnten. Dabei ist es ein spezifisches Vermögen, auch solche Grössen mit einzubeziehen, die ursprünglich weit entfernt lagen und mit dem Ausgangsproblem zunächst einmal nichts zu tun hatten. Die logisch-mathematische Intelligenz hat wohl die grösste Nähe zum traditionellen Intelligenzbegriff.
4. Intelligenz im Raum
Diese Art von Intelligenz kommt zum Tragen, wenn jemand einen Stadtplan rasch entziffern kann, eine Kommode effektiv einräumt, ein Zimmer umgestaltet, Tische dekoriert, sich erinnert, wohin er etwas gelegt hat, oder eine treffende Wegbeschreibung gibt. Menschen, die sich in fremder Umgebung rasch orientieren können, die gerne mit Karten, Diagrammen und geometrischen Gegenständen hantieren, die ein Gefühl für Proportionen, Grössen und Ähnlichkeiten mitbringen, die malen oder zeichnen können oder die gerne und gut Schach spielen (vielleicht sogar blind), sind in dieser Weise intelligent zu nennen. Den Kern dieser Intelligenz bilden die Fähigkeiten,
- Objekte in ihrer Gestalt und Ausdehnung akkurat wahrzunehmen;
- Objekte in der Vorstellungskraft rotieren und aus anderen Perspektiven sehen zu können;
- sich selbst in variabler Relation zu Objekten vorstellen zu können;
- die eigenen Wahrnehmungen umsetzen und zwei- oder dreidimensional ausdrücken zu können.
Eine meisterhafte Ausprägung erfuhr diese Form von Intelligenz zum Beispiel in Albert Einstein, der in der Lage war, die relative Bewegung von Objekten im Raum nahe der Lichtgeschwindigkeit und von unterschiedlichen Standpunkten aus gesehen nicht nur sich selbst vorzustellen, sondern auch (in der speziellen Relativitätstheorie) mathematisch zu fassen und diese Erkenntnisse gekonnt an andere weiterzugeben. Die Raum-Intelligenz war vermutlich auch im Spiel, als Leonardo da Vinci die ersten Hubschrauber und Panzer skizzierte, als Friedrich Kekulé die Ringstruktur des Benzolmoleküls entdeckte oder Watson und Crick die Doppelhelix der DNS. Weniger spektakulär, aber bei genauem Hinsehen ähnlich verblüffend, sind die von Gardner berichteten Fähigkeiten von Inuit, sich in einer weissen und merkmalsarmen Umgebung sicher orientieren zu können. Ihnen stehen die Pulawat-Segler der Südsee in nichts nach, denen es gelingt, zwischen ihren vielen Inseln ohne technische Hilfsmittel nach den Sternen zu navigieren und sicher ans Ziel zu finden.