Ohne Identitätsverlust
Man muss sich auch fragen, was genau denn wachsen soll. Geht es um Umsatz, Gewinn, Marktanteil, Marge, Anzahl Mitarbeitende, Image, Qualität, Attraktivität für Mitarbeitende, Lebensqualität der Mitarbeitenden oder der Unternehmer? Wachstum ist immer mit Kosten und Risiken verbunden. Das Wachstumsziel soll auch für die Kosten und Risiken entschädigen. Ein wachsendes Unternehmen muss sich permanent neu formieren, muss neue Strukturen und Differenzierungen, neue Führungs- und Ausdrucksformen entwickeln. Auch muss der innere Zusammenhalt – die Identität des Unternehmens – während des Wachstums permanent erhalten werden. Ein Unternehmen mit zehn Personen unterscheidet sich dabei fundamental von einer Firma mit tausend Mitarbeitenden.
Wachstum ist sehr attraktiv, weil bei einem wachsenden Unternehmen alle Anspruchsgruppen jedes Jahr etwas mehr bekommen können, ohne dass jemand verzichten muss. Dies ist eine komforta-ble Situation für Unternehmer (und übrigens auch für Politiker). Die durch längere Wachstumsperioden einhergehende Gewöhnung der Anspruchsgruppen an ein jährlich «grösseres Kuchenstück» entwickelt aber mit der Zeit eine Eigendyna-mik, wobei die bewusste Entscheidung zum Wachstum zunehmend durch einen Zwang zu Wachstum ersetzt wird, wo die Anspruchsgruppen wie verwöhnte Kinder damit drohen, ihre Kooperation zu verweigern, sollte denn das Wachstum einmal ausbleiben.
Inneres Wachstum stärken
Aus diesem Grunde bin ich der Überzeugung, dass jeder Unternehmer sein Unternehmen so entwickeln muss, dass Szenarien von Nullwachstum und auch von negativem Wachstum als vorstellbare Möglichkeit ihren Platz bekommen. Solche Szenarien müssen mit offenen Augen simuliert und geplant werden können. Gut ist es, wenn bei solchen Szenarien weder die Substanz noch die Überlebensfähigkeit des Unternehmens gefährdet werden. Diese Eigenschaft ist auch als Resilienz bekannt. Genauso wie ein Kaktus ein paar Jahre mit trockenem Wetter überleben kann oder sich der Bambus im Sturm biegt und dann wieder aufrichtet, müssen Unternehmer ihr Unternehmen auch für Schlechtwetterperioden gestalten. Wer seine Mannschaft nur bei gutem Wetter und bei ständig zunehmender «Nahrungszufuhr» hinter sich hat, steht in schwierigen Zeiten alleine auf verlorenem Posten.
Wer denkt, dass in schlechten wirtschaftlichen Zeiten das Wachstum ausbleibt, sollte genauer hinsehen. Wachstum manifestiert sich in schwierigen Zeiten im Inneren, zum Beispiel in der Fähigkeit, zusammenzuhalten, durchzuhalten, sich zu motivieren und gemeinsam neue Lösungen zu erarbeiten, Geduld und Hartnäckigkeit zu kultivieren und den Mut und das Vertrauen für Neues zu entwickeln. Dieses innere Wachstum kann sich in der nächsten «Vegetationsperiode» in Form von wirtschaftlichem Wachstum wieder entfalten. Darin liegt eine grosse Stärke.
Wachstum gestalten
Von zentraler Bedeutung ist allerdings, dass die Tätigkeit des Unternehmens von den Mitarbeitenden und anderen Anspruchsgruppen als sinnvoller Beitrag zur Gesellschaft empfunden wird. Fehlt diese Sinnhaftigkeit, so reduziert sich nicht nur das Unternehmen zur materiellen Produktionsmaschine, sondern jeder einzelne Mitarbeitende, jede Führungskraft, ja sogar jeder Investor wird zum drehenden Zahnrad in einer sinnlosen Maschinerie, welche den Bezug zum Lebendigen verloren hat und ihren Zweck nur noch in der Erzielung von geldwerten Leistungen findet. In einem solchen Umfeld ist das materielle Wachstum leider die einzige Droge, welche die Menschen antreibt. Die Kollateralschäden dieser Entwicklung sind Burn-outs, Selbstmorde, Suchtverhalten und andere Effekte, welche die Lebensqualität der Einzelnen, ihrer Familie und der Gesellschaft massiv beeinträchtigen. Henry Ford soll dazu einmal gesagt haben: «A business that makes nothing but money is a poor kind of business.»
Wir haben immer die Wahl, wofür wir uns entscheiden. Als Unternehmer ist man besonders gefordert, da man mehr Freiheitsgrade hat als ein angestellter CEO, der häufig in einem vorgegebenen Hamsterrad aus engmaschigen «Key Performance Indicators» funktionieren muss, um zu bestehen. Wir haben die Möglichkeit, unser Unternehmen und unser Wachstum so zu gestalten, dass es nicht nur uns und unseren Kunden, sondern auch der Gesellschaft nachhaltig nützt. Wir sollten dieses Privileg nutzen.