Die Maxime des Physikers und Managementtheoretikers Eli Goldratt «Sag niemals ‹Ich weiss›» ist die beste Grundeinstellung für die unvorhersehbare Welt, wie sie auch Nassim Nicholas Taleb, Buchautor («Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen»), Finanzmathematiker und Forscher in den Bereichen Risiko und Zufall, darstellt. Einer der grössten Fehler vieler Manager, Ökonomen, Politikwissenschaftler, Statistiker und anderer ist es, immer wieder – wider besseres Wissens – davon auszugehen, dass sie valide Prognosen machen und auf diesen basierend Entscheidungen treffen können.
Taleb nennt diese Menschen «Fragilista» – sie verursachen Fragilität durch ihre Überzeugung, die Welt zu verstehen und vorhersagen zu können. Stattdessen, so Goldratt, sollten Unternehmen immer davon ausgehen, dass Annahmen, Schlussfolgerungen oder Vorhersagen ungültig sein können oder es durch Veränderungen im Umfeld plötzlich werden.
Die Antifragilität
Aus seiner Berufserfahrung als Derivatehändler weiss Nassim Taleb, dass Volatilität und Schwankungen mehr Vor- als Nachteile haben. Systeme und Menschen, die aus unvorhergesehenen Situationen Nutzen ziehen können, bezeichnet Taleb als antifragil. Um zu verdeutlichen, was Antifragilität ist, liefert Taleb zunächst eine Definition für Fragilität: «Eines Tages betrachtete ich meine Kaffeetasse. Wie die Kaffeetasse ‹mag› Fragilität keine Zufälle, Schwankungen und Erschütterungen. Sie ‹möchte› Frieden und Ruhe.»
Wir Menschen setzen Fragilität oft mit Zerbrechlichkeit gleich. Antifragilität ist das genaue Gegenteil: Während auf einem Postpaket «Fragile – handle with care» (Zerbrechlich, vorsichtig behandeln) steht, müsste auf einem antifragilen Päckchen die Aufforderung «Please mishandle!» (Bitte falsch behandeln!) aufgedruckt sein. Fragil ist ein System, das eher Nachteile als Vorteile aus zufälligen Schocks zieht, erkennbar durch nichtlineare Reaktionen des Systems. Antifragile Systeme oder Individuen profitieren von Volatilität und haben zwangsläufig mehr Vorteile als Nachteile durch zufällige Erschütterungen. Antifragilität ist nach Talebs Definition auch etwas anderes als die Belastbarkeit oder Robustheit von Systemen. Belastbare Systeme verhalten sich lediglich neutral bei Erschütterungen, während antifragile Systeme aufblühen, wenn es Verwerfungen gibt. Oft wird Robustheit mit Antifragilität verwechselt. In der Hälfte der Fälle ist mit robusten Systemen gemeint, dass sie Schocks neutral überstehen, für die andere Hälfte sollte besser von antifragilen Systemen gesprochen werden.
Kontinuierlicher Lernprozess
Das Konzept der Antifragilität ist seit Nassim Talebs neuestem Buch ein heisses Gesprächsthema. Das Thema griff auch Dr. Alan Barnard («What does not kill us, makes us stronger or not …: What [conditions / decision rules] can make the difference?», Tocico 2015) auf. Taleb erläutert, wie die «Theory of Constraints» dabei helfen kann, Systeme (gemeint sind dabei Unternehmen, aber auch Lieferketten oder Personen) antifragiler zu machen. Die «Theory of Constraints» legt grossen Wert darauf, aus Erfahrungen – Erfolgen wie Misserfolgen oder Beinahe-Unfällen – Lektionen zu ziehen, um sich stets verbessern zu können.
Dieselbe Einstellung zeichnet auch ein antifragiles Unternehmen aus: In einem sich ständig verändernden Umfeld ist es wichtig, auf Entwicklungen schnell zu reagieren und sich entsprechend neu zu positionieren. Um die unterschiedlichen Reaktionen fragiler, robuster und antifragiler Systeme zu verstehen, muss man sich die «Ergebnis-Asymmetrie» vor Augen führen, die bei jedem Ereignis eine Rolle spielt: Wie viel habe ich zu verlieren, wie viel zu gewinnen?
- Ein fragiles System hat stets viel zu verlieren (der Schaden kann potenziell immens sein), aber wenig zu gewinnen (selbst im Idealfall wird sich nur wenig Gutes aus der Situation herausschlagen lassen). Hier zeigt sich auch, dass selbst sehr grosse Unternehmen fragil sein können: Wer sehr weit oben ist, kann auch tief fallen.
- Ein antifragiles System dreht die Asymmetrie um. Es schafft es, aus Stresssituationen ein Maximum an Gewinn zu schlagen, und gleichzeitig sichert es sich ab, um etwaigen Schaden stets auf ein Minimum zu reduzieren.
- Ein robustes System befindet sich in einem Zustand der Symmetrie. Es tuckert in guten wie in stürmischen Zeiten vor sich hin, ohne in die eine oder andere Richtung weit auszuschlagen (kaum Schaden, aber auch geringer Gewinn).
Hier zeigt sich bereits, wohin der Weg von fragil zu antifragil führt:
- Das System muss so aufgesetzt sein, dass es (unvermeidliche) Misserfolge absorbiert und allenfalls nur minimal Schaden trägt.
- Gleichzeitig muss es aus Erfolgen maximal Kapital schlagen können.
In anderen Worten, es spielt mit geringem Einsatz und hohen Erträgen.